Das größte und wichtigste Trickfilm-Festival der Welt in Annecy (mit dem angeschlossenen Trickfilm-Markt MIFA) überbot sich dieses Jahr in seiner 63. Edition selbst in der Vielzahl von Programmen, Filmangeboten, Konferenzen, Vorstellung von technischen Neuerungen und erweitertem Spektrum des animierten Film-Schaffens. Die Zahl von über 15.820 Festival-Goern (Badge-Holder) aus 102 verschiedenen Ländern dokumentieren hierbei den neuen Boom des Animationsfilms. Jürgen Keuneke war einer von ihnen und berichtet aus der Trickfilm-Hauptstadt in den französischen Alpen.
Diesmal war die Veranstaltung besonders rund, denn neben einem Wachstum (20 %) gegenüber dem Vorjahr und Digitalisierung in allen Bereichen, spielte diesmal auch das schöne Wetter mit. Sehr zur Freude von Festival-Director Marcel Jean, der mit seinem Team wieder für ein vielseitiges, interessantes und hochwertiges Gesamt-Programm gesorgt hatte. Dies setzt sich in seiner Qualität deutlich von den anderen 250 Animationsfilm-Festivals ab, die es weltweit gibt. »Dieses Jahr bin ich besonders beeindruckt vom Reichtum und der Vielseitigkeit der Filme in politisch weltweit sehr herausfordernden Zeiten, die dies auch inhaltlich und künstlerisch in großer Bandbreite dokumentieren!«, sagte Jean. »Wir haben im Auswahlprozess eine sehr große Vielfalt von Stilen und künstlerischen Talenten kennen gelernt. Auch die Vielzahl der eingereichten Langfilme und deren Qualität war wirklich beeindruckend. Zudem zieht sich das Thema »Animation, Pride und Diversity« durch unseren gesamten Event!«
Vielseitiges Festival-Programm
Insgesamt 468 Filme liefen diesmal in den Wettbewerben. Für die Featurefilm-Competition hatte die Vorauswahl-Jury 11 Langfilme ausgesucht. In den Kurzfilmprogrammen standen 50 Kurzfilme in 5 Programmen im Wettbewerb, aus dem Nachwuchsbereich liefen im Studierendenprogramm 54 Kurzfilme über die Leinwände. Zudem gab es TV-Filme, TV-Serien Episoden und VR-Anwendungen. Natürlich durften auch eine Übersicht über animierte Werbespots und Musik-Videos in Trickfilm-Umsetzung nicht fehlen.
Doch nicht nur die Wettbewerbsprogramme machen es für Professionelle, Studierende und Medienschaffende reizvoll, jährlich einmal nach Annecy zu reisen. Zusätzlich fanden Screenings und Erstaufführungen von »Out of Competition«-Langfilmen und »Out of Competition«-Shorts statt. Festival-Goer, die nach einigen Tagen mit Filmschauen bis in die Nacht hinein, nicht nur durch die schöne Altstadt von Annecy schlendern wollten, besuchten Ausstellungen wie »Chicken Run« (Original-Puppen von Aardman-Animation zum neuen Film »Chicken Run – Dawn of the Nugget«) oder die Werk-Präsentation von Theodore Ushev im Schloss von Annecy. Am dritten Tag des Festivals eröffnete zudem die angeschlossene MIFA ihre Pforten, die bedeutendste Messe für den Trickfilm weltweit. Weiter lockten Workshops und Konferenzen im Trickfilm-Kontext zur Aus- und Weiterbildung. Signier- und Zeichenstunden von Animation-VIPs waren besonders für den Nachwuchs attraktiv, der sich gern und zahlreich um Vorbilder wie Bill Plympton und Peter Lord scharte. Meetings mit Filmemacher:innen und Veranstaltungen, in denen bekannte Produzent:innen und Unternehmen »aus dem Nähkästchen« plauderten und geheimes Material erstmalig einer Öffentlichkeit präsentiert wurde, machten das Angebot für die Interessierten reizvoll.
Mexikanischer und ukrainischer Film im Fokus
Wie jedes Jahr hatten u.a. Studierende der »Gobelins l´école de l`image« aus Paris als Semesterarbeit an den gelungenen täglichen Trailer-Filmen des Festivals gewerkelt, die Traditionen des Trickfilmschaffens in Stil und Umsetzung aufnehmen und eine unterhaltsame Kurzgeschichte erzählen, die mit dem Festival-Logo, den Festival-Sponsorennamen und der »Lapin«-Hasenfigur (der Sympathiefigur des Festivals) garniert werden. Dieses Jahr drehten sich Trailer im Vorspann der Wettbewerbe natürlich um das Thema Mexiko, da der mittelamerikanische Film in Annecy 2023e im besonderen Fokus stand. Wie immer segelten nach dem Erscheinen von »Le Lapin« Hunderte von Papier-Fliegern der Kino-Zuschauer:innen auf die Bühne. Jeder Flieger, der den Screen erreichte, bekam tosenden Beifall. Nur eine der Kleinigkeiten, die das Trickfilmfestival von Annecy so familiär und liebenswert machen, trotz seiner Größe!
Mexiko, das sogenannte »Gastgeberland« des diesjährigen Events im französischen Annecy, steht im Filmschaffen für ideenreiche, künstlerisch anspruchsvolle und besonders makabre Kurz- und Langfilme. Viele junge mexikanische Trickfilmkünstler:innen bereicherten das Annecy-Festival diesmal mit Trailern und Kurzfilmen. Der bekannte Animationsfilm-Regisseur Jorge R. Gutierrez (»Maya and the Three«), dessen Werke in der populären mexikanischen Kunst verankert sind, gestaltete auch das Festival-Plakat für den diesjährigen Event, das als normales Plakat und animiertes Poster zu sehen war. Gutierrez sagt zu seiner Plakat-Gestaltung: »Mein Werk ist inspiriert von all den spektakulären Nacht-Partys unseres geliebten Annecy-Festivals. Außerdem wurden die zwei kommenden mexikanische Feature-Filme »Frankelda y el príncipe de los sustos« und »Batman Azteca: choc de imperios« in der Reihe »Work-in-Progress« behandelt. »Das ist für ein Land, das aus verschiedenen Gründen nicht sehr viele Filme produzieren kann, sehr bedeutend,« kommentierte Festival-Leiter Marcel Jean.
Aus aktuellen Gründen stand auch der ukrainische Trickfilm diesmal zusätzlich im Fokus des Festivals. 5 TV-Serien waren im Rahmen vom Programm »Animation in Ukraine now!« zu begutachten. Eine der Serien knüpft dabei an den auch in Frankreich erfolgreichen ukrainischen Kinofilm »Mavka« an, der zusätzlich in Annecys Open Air-Kino ausgestrahlt wurde. Der Film von Oleg Malamuzh und Oleksandra Ruban, in einem ukrainischen Bombenschutzbunker produziert, ist dort mit über 1 Million Kino-Zuschauer:innen bereits der erfolgreichste Film aller Zeiten! Im September kommt er auch in Deutschland in die Kinos – unter dem Titel »Mavka – Hüterin des Waldes.«
Viele populäre Highlights und deutsche VR-Kompetenz
Annecy bot auch viele gelungene Überraschungen. Im Abend- und Nachtprogramm liefen nicht nur offizielle Kino-Screenings, sondern vor dem riesigen Open-Air-Screen am See auch ein gesondertes Programm für täglich bis zu 8000 Zuschauer:innen (mit Highlights wie Disneys Zeichentrickfilm »Fantasia 2000« und Guillermo del Torro’s neuen »Pinocchio«-Stop Motion-Kinofilm). Premiere feierte zudem der neueste Pixar-Film »Elemental«. Das Studio setzt hier, wie fast alle Majors inklusive DreamWorks, auf Produktion in 3D-CGI.
Gleich zu Beginn des Festivals bereits in Rekordzeit ausgebucht waren Veranstaltungen zum neuen animierten »Herr der Ringe«-Animationsfilm (»War of the Rohirrim«) und zum von allen Trickfilm-Liebhaber:innen sehnsüchtig erwarteten neuen »Chicken Run«-Knetanimationsfeature von Aardman Animation (»Neues auf Netflix«). Für beide kommenden Blockbuster zeigten Produktions-Verantwortlichen Konzeptionsteile und bereits erste fertiggestellte Ausschnitte aus den Features. Den »Lord of the Rings«-Zeichentrickfilm (spielt im Mittelerde-Land Rohan einige hundert Jahre vor der HdR-Trilogie) rund um Hauptfigur Helm Hammerhand stellten Philippa Boyens (Drehbuch – auch bereits bei Peter Jacksons legendärenVerfilmungen im Einsatz) zusammen mit Director Kenji Kamiyama vor. Für Aardmans neues Claymation-Werk standen Aardman-Chef Peter Lord und Director Sam Fell höchstpersönlich auf der Bühne des Bonlieu-Theaters. Beide Veranstaltungen zeigten eindrucksvolle Bilder des »Making of« und machten Lust auf mehr.
Zahlreiche deutsche Beiträge liefen in den verschiedenen Sektionen und Wettbewerben des Annecy-Festivals. Ins Rennen um die zahlreichen Annecy-Awards für Kurzfilm ging diesmal »11« von Vuk Jevremovic, »Das feine Zirpen einer Dunkelziffer« von Vera Sebert, »Baikal See« von Alisi Telengut und »Prinzessin Aubergine« von Dina Velikovskaja. Im Wettbewerb »Studenten-Filme« traten Yi Luo mit »Dodo« und Tim Markgraf mit »Makulatour« an. Deutsche Innovation im Bereich »VR-Anwendungen« bewies Pedro Harres mit »From The Main Square«. Die VR-Anwendungen hatten im Bonlieu-Center – dem Herz des Festivals – einen gesonderten ruhigen Bereich bekommen, damit Besucher:innen ungestört mit VR-Brille in neue Welten eintauchen konnten.
Deutsche Innovation in einem VR-Projekt, das in Annecy einen großen Award gewann:
In der Anwendung sitzt der Betrachter (mit VR-Brille) auf einem zentralen Platz mitten in einem Ort, in dem rundum das aufregende Geschehen in einer 2D-Zeichentrick-Umgebung bis zum Sonnenuntergang erlebt wird.
Auch beim Langfilm war Deutschland vertreten: »Die Sirene« von Sepideh Farsi mit Beteiligung vom Studio Lutterbeck/ Matthias Bruhn (DE/ BEL/ FR) trug viele Hoffnungen auf einen »Kristall«-Gewinn. Zudem war auch in der Contrechamp-Sektion »Johnny and me« von Katrin Rothe (DE/AT/CH) im Wettbewerb mit internationaler Konkurrenz. Weitere deutsche Produktionen wurden als »Work in Progress«-Projekte präsentiert: Der Langfilm »Sultana’s Dream« von Isabel Herguera und der Extended Reality-Film »Emperor« von Marion Burger und Ilan Cohen. Die Hoffnungen auf große Auszeichnungen wurden allerdings ein wenig enttäuscht, denn nur das Feature »Die Sirene« und die VR-Anwendung »From the Main Square« wurden schließlich preisgekrönt. Trotzdem hoffen die Kreativen auf Erfolg und Absätze auf dem internationalen Markt. Unterstützt werden die deutsche Filmemacher:innen dabei von German Films und der AG Kurzfilm, die sich intensiv um Support des deutschen Filmschaffens kümmern.
Deutscher Gemeinschaftsstand und MIFA-Messe
Die eindrucksvolle MIFA-Trickfilmmesse, am Hotel Imperial direkt am See von Annecy eingerichtet, war gegenüber 2022 noch einmal gewachsen und bot diesmal über 600 Ausstellern und 6410 Professionellen aus den teilnehmenden Ländern Platz. »Annecy ist ein weltweit einzigartiges Ereignis, da es den gesamten Animationsprozess sowie alle Genres und Stile umfasst«, beschrieb die MIFA-Leiterin Véronique Encrenaz den Event. »Es kommen auch viele Animationsfilm-Hochschulen: Dieses Jahr sind 3.600 Studierende unter den mehr als 15.000 Akkreditierten. Wir zeigen neue Technologien, denn natürlich braucht man in der Animation Werkzeuge! Es kommen die Produzent:innen, die Verleiher:innen, die Kanäle, und natürlich werden Filme satt gezeigt.«
Awards für Filme mit inhaltlichem und gestalterischem Tiefgang
Den »Kristall« für Langfilm gewann der handgezeichnete 2D-Trickfilm »Chicken for Linda« von Chiara Malta und Sébastien Laudenbach, der in einem sehr originellen Zeichenstil eine bittersüße Mutter-Tochter-Geschichte erzählt.
Mit der Themenvielfalt »Geschichtliche und religiöse Wurzeln, Diversität und dem menschlichen Krieg mit der Natur« beschäftigt sich der ungarische Lang-Zeichentrickfilm »Four Souls of Coyote« vom Ungarn Aron Gauder, der im Kontext »indigenes Zusammenleben mit intakter Umwelt« bildgewaltig und erzähltechnisch beeindruckt. Daher ist es naheliegend, dass die Annecy-Jury an diesem Film nicht vorbeikam und ihm ihren Feature-Preis verlieh.
Den Publikumspreis für Langfilm bekam der Zeichentrickfilm »Sirocco and the Kingdom of Airstreams« des französischen Directors Benoît Chieux. In dieser abenteuerlichen Geschichte verirren sich zwei Schwestern über eine geheime Passage in ihr Lieblingsbuch. Sie müssen – in Katzengestalt transformiert – mit Hilfe einer Sängerin nun den Weg zurück nach Hause finden. Dabei weden sie immer wieder mit Sirocco konfrontiert, dem Herr der Winde und der Stürme.
Der wichtigste Preis in Annecy ist immer der Kristall für den besten Kurzfilm. Auch hier wurde diesmal ein künstlerisch anspruchsvoller Zeichentrickfilm von der Jury ausgewählt, der aber auch beim Publikum selbst bestens ankam: Der sehr erotische Short »27«. Dieser in 2D gezeichnete Streifen der Französin Anna Buda visualisiert die Gedanken einer 27-jährigen, die wie viele ihrer westlichen Generation noch daheim im »Hotel Mama« wohnt. Rundum versorgt sehnt sie sich aber nach Abenteuern und dem »richtigen« Leben – flüchtet sich in aufregende Tagträume.
Die Zuschauer in Annecy selbst hatten ein feines Gespür für zeitgenössische Themen und besondere künstlerische Umsetzung. Sie ehrten den Kurzfilm »Nun or Never« (Heta Jäälinola/ Finnland) mit dem Publikums-Award. Auch hier geht es um Flucht aus dem Lebensalltag, diesmal in ein Kloster. Das es auch im Kloster um das Geben und Nehmen und um viele menschliche Befindlichkeiten geht (vor denen man nicht wirklich entkommen kann), zeigt dieser Film.
Das Annecy-Publikum liebte einen bitterbösen Zeichentrick-Kurzfilm besonders, bei dem Beobachtende oft nicht wussten, ob sie weinen oder lachen sollten. Im niederländischen Zeichentrickfilm »Drijf« macht ein Paar im Urlaub einen FKK-Paddel-Ausflug auf das Meer, um Delfine zu beobachten. Es wird eine lange Irrfahrt für die beiden, die dabei Grenzen ihrer Beziehung austesten und sich dabei nun so richtig kennenlernen. Für den Niederländer Levi Stoops gab es dafür den Publikumspreis für Kurzfilm.
Immerhin gab es zwei deutschen Erfolge bei den Preisverleihungen zu feiern. Der im Iran/Irak-Krieg spielende Langfilm »Die Sirene« mit Beteiligung von Studio Lutterbeck überzeugte grundlegend mit Story und bildlicher Umsetzung, wurde aber von der Jury für seine herausragende Filmmusik ausgezeichnet. Für besonderen Zeichenstil, Content und Animation bekam schließlich auch Pedro Harres aus Berlin einen Annecy-Spezialpreis für herausragende VR-Anwendung. Gäste, die in »From the main Square« mit VR-Brille in einen von Bergen umgebenden (cartoon-gezeichneten) Ort eintauchen und auf dem zentralen Platz mittendrin einen Tag von Sonnenaufgang bis zur Nachtuhe erleben, nehmen teil an den vielseitigen Ereignissen seiner Umgebung. Director Pedro Harres, ein in Deutschland lebender Brasilianer, zu seinem Werk: »Das Projekt ist ein Resultat meines Lebens in Berlin seit vier Jahren, in dem ich nun meine Heimat Brasilien mit gewissem Abstand betrachten kann. Die Handlung in der VR-Umgebung ist eine Collage von großstädtischen Absurditäten, die manchmal lustig sind, aber auch brutal werden. Ein Spiegel der gesellschaftlichen Unterschiede in politischer Polarisation und einem Zusammenbruch der wohnlichen Umgebung. Das Projekt ist im Zeichenstil von Daniel Eizirik umgesetzt. Samuel Patthey und Sophia Schönborn haben die Animation gemacht. Es ist mein VR-Debut und ich bin sehr glücklich, dass dies Projekt bereits beim Filmfestival in Venedig und nun hier in Annecy ausgezeichnet wurde!«
Marcel Jean mahnte zum Abschluss des Festivals, auch beim Thema Animationsfilm weiter fortschrittlich zu bleiben und neu zu denken: »Kino im Allgemeinen und Animationsfilm im Besonderen verändern sich! Gerade hier in Annecy müssen wir am Puls des Einflusses der fortschreitenden Weiterentwicklung der Technologien bleiben, deren Stabilität wesentlich für künstlerische Produktion und ihren wirtschaftlichen Vertrieb ist. Hier ist der Platz, wo wir die künstlerischen Ergebnisse sammeln und ausstellen müssen, die sich aus den oft dramatischen und wirtschaftlichen Veränderungen ergeben, welche die Trickfilm-Industrie antreiben. Gerade hier, wo wir den besonderen Blick auf die Geschichte und Tradition des Animationsfilms und seine aktuelle Her- und Darstellung haben, müssen wir diese einfache Frage beantworten: Was ist Animation heute?«
Text: Jürgen Keuneke
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