Der Art Director Benjamin Wolbergs gestaltet viele Bücher für internationale Kunstbuchverlage. Ein solcher Auftrag brachte ihn mit Bildern aus den 1950er und 1960er Jahren in Berührung, die sich an ein queeres Publikum richteten. Sie inspirierten ihn, »New Queer Photography« zu veröffentlichen; Christine Moosmann hat sich darüber mit ihm unterhalten.
Im normalen Leben gestalten Sie Bücher für Verlage, allerdings haben Sie 2007 schon einmal ein eigenes Buch herausgebracht, damals war es Ihnen wichtig, dem Thema Street Art eine Plattform zu bieten. Warum hatten Sie nun das Gefühl, dass es ein Buch über Queer Photography braucht?
Auf die Idee zum Buch kam ich während meiner gestalterischen Arbeit an einer Publikation für den Taschen Verlag. Dabei ging es um sogenannte »Physique Photography« aus den 50er und 60er Jahren, deren Ästhetik und Bildwelten sich damals eindeutig an ein schwules Publikum richteten. Ich habe mich dann gefragt, wie ein solches Buch aussehen würde mit zeitgenössischer schwuler bzw. queerer Fotografie. Als ich dann mit der Recherche begann tat sich mir ein Universum unglaublich talentierter Künstler:innen auf: die Themen und Bildwelten und insbesondere auch die künstlerische Qualität der Arbeiten haben förmlich danach geschrien veröffentlicht und einem breiten Publikum, vor allem auch außerhalb der queeren (Kunst)Szene, bekannt gemacht zu werden.
Zudem spricht das Buch Themen an, die mir sehr am Herzen liegen: ein besonderer Fokus liegt zum Beispiel auf dem Sichtbarmachen alternativer Schönheitsideale und dem Zelebrieren eines individuellen Schönheitsempfindens.
Was genau verstehen Sie unter queer?
Ich denke, wenn man zehn unterschiedliche Menschen nach einer Definition von queer fragt, bekommt man auch zehn unterschiedliche Antworten. Ich kann also nur meine eigene Sichtweise von queer beschreiben: ich persönlich und vor allem im Zusammenhang mit meinem Buch gehe bei queer von einem inkludierenden »umbrella term« aus und meine damit alle nicht heteronormativen Lebensweisen. Queer kann für mich ein Lebenskonzept aber auch eine bestimmte Haltung oder subversive Aktion sein.
Ihr Buchtitel heißt »New Queer Photography«, geht es um neue queere Positionen in der Fotografie oder ist es generell neu, dass Fotograf:innen sich oder ihr Werk als queer verorten?
Das Verorten von Fotograf:innen bzw. deren Arbeiten als queer ist gar nicht so neu. Deshalb bezieht sich das »new« bei meiner Publikation eher auf den zeitgenössischen Charakter der Arbeiten, die größtenteils in den letzten zehn Jahren entstanden sind.
Die Bandbreite die Sie präsentieren, ist enorm. Manche Bilder stammen aus dem letzten Jahrhundert, andere sind ganz neu. Es sind sehr künstlerische Arbeiten dabei, ebenso wie Fotoreportagen und als Betrachter wird einem buchstäblich die ganze Welt präsentiert, von Berlin über New York bis nach Südafrika, Peru und Vietnam. Wie haben Sie die Künstler:innen ausgewählt?
Die Recherchearbeit bei diesem Buch war mit circa vier Jahren ziemlich lang und sehr intensiv. Ich hatte den Anspruch mir erst einmal einen sehr breiten Überblick über die Szene zu verschaffen und konnte dadurch auch gut die Entwicklung einzelner Fotograf:innen beobachten. Ich habe Kunstbücher und Magazine durchforstet, die intensivste Recherche passierte allerdings online, auf unzähligen Internetseiten, Blogs und Social Media Kanälen. Bei der finalen Auswahl war mir dann wichtig ein möglichst breites Spektrum an queeren Themen, Bildwelten und fotografischen Positionen abzubilden, wobei natürlich auch ein großes Augenmerk auf der künstlerischen Qualität der Arbeiten lag.
Hierzulande outen sich Minister und Bürgermeister tanzen auf Gay-Pride-Paraden mit, in vielen Länder ist es aber immer noch gefährlich, queer zu sein. Können Sie etwas zu den Arbeiten sagen, die die Lebenswirklichkeit in diesen Ländern abbilden?
Ein eindrucksvolles und bewegendes Beispiel hierfür sind die Bilder von Robin Hammond. Die Portrait Serie »Where love is illegal« zeigt Mitglieder der LGBTQI+ Community aus Ländern, in denen gleichgeschlechtliche Liebe kriminalisiert wird und zu Diskriminierung, physischer und psychischer Gewalt, Haft und Folter bis hin zur Todesstrafe führen kann. Wobei speziell bei Hammonds Bildern auf den zweiten Blick auch eine gewisse Doppeldeutigkeit sichtbar wird: durch die überaus sensible Arbeit des Fotografen wird die Opferrolle überstrahlt vom Mut und der Stärke der Porträtierten. Durch Hammonds Bilder werden sie sichtbar und bekommen die Möglichkeit, die eigene Geschichte zu erzählen – trotz der enormen Gefahren, die gerade damit verbunden sind.
Genau diese Spannungsfelder waren mir bei der kuratorischen Arbeit am Buch sehr wichtig: die Themen und Fotografien sollten auf gesellschaftliche und politische Missstände aufmerksam machen, genauso intensiv wollte ich aber auch die Stärke, Widerstandsfähigkeit, den Stolz und die pure Freude innerhalb der queeren Szene zelebrieren.
Im Kapitel »Queer Kids in America« wird Mars zitiert, die sich selbst auf dem trans-maskulinen Spektrum einordnet, irgendwo zwischen gender-queer und binär. Als Facebook über 60 Gender-Optionen einführte, sorgte das oft für Häme und Unverständnis. Warum ist es für queere Menschen so wichtig, sich präzise einordnen zu können?
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob es den meisten queeren Menschen um eine möglichst präzise Gender-Einordnung geht. Gerade das erwähnte Beispiel zeigt in welchem unpräzisen und breiten Spektrum sich Mars selber sieht.
Es sollte queeren Menschen aber nicht die Möglichkeit verwehrt werden, sich präzise einordnen zu können, wenn sie das möchten. Welchen Sinn macht es sich selbst oder von der Gesellschaft in Geschlechterkategorien hinein gepresst zu werden, denen man sich nicht zugehörig fühlt?
Mit »New Queer Photography« möchten Sie Ihren Blick vor allem auf die Ränder richten, warum ist dieser Blick Ihrer Meinung nach so lohnenswert?
Dieser Blick ist so wichtig, weil die Ränder mit Ihren Menschen und Geschichten einfach zu oft vor allem von den Mainstreammedien übersehen bzw. vernachlässigt werden und vom gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen sind.
Wobei meiner Meinung nach gerade an den Rändern die spannensten Geschichten passieren. Ich bin auch davon überzeugt, dass die Kreativität und das individuelle Entfalten oft gerade von dieser Position profitieren kann.
Bezogen auf die Künstler:innen aus dem Buch, denke ich, ist das Arbeiten am Rande sogar eine große Chance: ist die Perspektive vom Rande aus nicht oft eine viel spannendere als vom Mittelpunkt beziehungsweise Mainstream aus? Macht es nicht bezogen auf den Schaffensprozess und die Schaffenskraft viel freier und experiementierfreudiger vom Rande aus zu arbeiten, als sich all den Normen und Erwartungen aus der Mitte der Gesellschaft anzupassen bzw. zu unterwerfen? Und entstehen nicht gerade an den Rändern von Gesellschaften großartige Narrative und bedeutende Kunstwerke?
Vier Jahre haben Sie an diesem Buch gearbeitet, was hat Sie an der Arbeit am meisten berührt?
Im »normalen« Arbeitsalltag bin ich Art Director und gestalte hauptsächlich Bücher für Kunstbuchverlage weltweit. Das empfinde ich schon oft als großes Geschenk und Privileg. Wenn man dann aber bei einem Projekt nicht nur Gestalter sondern auch Herausgeber sein kann, das heißt man ist von der Idee und dem Konzept über die Auswahl der Bilder und Autoren bis hin zur Ausführung, der Ausstattung und der Verlagssuche für alles zuständig und alleine verantwortlich ist das in diesem Bereich eine der anspruchsvollsten aber auch beruflich erfüllensten Aufgaben überaupt.
Die Arbeit am Buch war aber auch begleitet vom immer wiederkehrendem Zweifel an meiner kuratorischen Arbeit und Gestaltung, von der Verzweiflung bei der Verlagssuche, dann dem Zittern bei der Crowdfunding Kampagne, um das Projekt überhaupt verwirklichen zu können bis hin zur mehrmaligen Verschiebung der Veröffentlichung wegen Corona.
Wenn das Buch dann aber inhaltlich und gestalterisch genauso geworden ist, wie man es sich vorgestellt hat, sind die schwierigen Phasen sofort vergessen und man möchte gleich das nächste Buch konzipieren, gestalten und herausgeben.
New Queer Photography
Benjamin Wolbergs
Kettler Verlag
Text in Englisch, 304 Seiten, Hardcover, 58,– Euro
ISBN 978-3-86206-789-3