Im aktuellen Heft stellen wir Ihnen die preisgekrönte Masterarbeit von Linda Rammes vor, die das Narrativ einer sozial sowie ökologisch verantwortungsbewussten Gesellschaft stärken möchte. Im Interview beschreibt sie Design als politische Beeinflussung: Klimapolitische, soziale und nicht zuletzt gestalterische Anliegen sind untrennbar miteinander verwoben. Ihr Praxis- und Anwendungsbeispiel mit dem vielsagenden Titel »Furore – Online-Magazin für Klimaprotest« stellt es unter Beweis.
Linda, würdest du dich als Optimistin bezeichnen?
Lustig, dass du mich das fragst. Darüber streite ich oft mit meinem Freund, weil ich mich als Optimistin bezeichne, er das aber anders sieht. Ich konfrontiere mich häufig mit dem Worst Case, um einerseits nicht enttäuscht zu sein, wenn er eintritt, aber auch, um vorbereitet und handlungsfähig zu sein. Vielleicht kann ich die Bezeichnung »optimistische Realistin« für mich einnehmen.
Du hast dich in der Masterarbeit mit dem Thema »Mündigkeit« beschäftigt. Was ist für dich Mündigkeit als solche?
Mit »Mündigkeit« meine ich einen lebenslangen Selbstformungsprozess, in dem ich als Individuum nach einem selbstbestimmten Denken, Empfinden und Handeln strebe. Als mündiger Mensch strebe ich immer wieder danach, mein Leben so zu gestalten, wie ich es für richtig halte.
Wie bist du zu dem Thema gekommen?
Ich musste feststellen, dass ich mich oft unmündig fühle, wenn ich mit Nachrichten über die aktuellen gesellschaftlichen Krisen konfrontiert werde, wie der Klimakrise, der Corona-Krise, den sozialen Krisen und dem Erstarken der autoritären Rechten. All das lähmt mich und ich fühle mich häufig ohnmächtig. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflussen mein Leben und sie schränken meine Möglichkeiten auf Selbstformung ein.
Sei es die AfD, die mit ihren regressiven Vorstellungen unsere Gesellschaft in einer autoritären Weise wieder patriarchisch, rassistisch und nationalistisch prägen möchte. Oder sei es die Klimakrise, die von vielen Menschen verharmlost wird und in wenigen Jahren meine Umwelt stark zerstört haben wird, sodass meine Chancen geringer werden, mein Leben so zu gestalten, wie ich es möchte. Ich frage mich, welchen Einfluss ich als einzelne Person schon nehmen kann, damit ich mich davor schützen kann und auch in Zukunft die Freiheit habe nach Mündigkeit zu streben. Ich wollte diesem ohnmächtigen und unmündigen Gefühl auf den Grund gehen und herausfinden, welche gesellschaftlichen und auch individuellen Faktoren mir helfen, mündig zu werden. Ich wollte erfahren, wie ich Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse nehmen kann, die mein Leben beeinflussen und fremdsteuern. Und zudem wollte ich erforschen, wie Design Einfluss auf Mündigkeit nehmen kann.
Welche Faktoren sind deiner Meinung nach wichtig, um mündig zu werden?
Sehr wichtig für Selbstformungsprozesse ist eine offene, pluralistische Gesellschaft mit flexiblen Machtverhältnissen und diversen Akteur:innen. Die Beschaffenheit der Gesellschaft ist entscheidend, da ich ja nicht in einem machtfreien Vakuum existiere, in dem ich allein entscheiden kann, was ich machen möchte. Ich werde in eine Gesellschaft hineingeboren, die meine Möglichkeiten auf Selbstformungen stark vorbestimmt und lenkt. So existieren verschiedene Beeinflussungen, wie Normen, Rollenbilder, Praktiken und Narrative, die auf mein Denken, Empfinden und Handeln einwirken.
Diese Formen der Beeinflussung gehen auf Mitglieder der Gesellschaft zurück – auf weitere Akteur:innen, die ihre eigenen Vorstellungen von Gesellschaft und Leben haben. Sie alle streben danach ihre Lebensweise gesellschaftlich zu etablieren, indem sie andere beeinflussen und davon überzeugen. Um ihre Vorstellungen von Leben zu vermitteln, engagieren sie sich in Diskursen, in denen sie mit weiteren Akteur:innen über Themen diskutieren und verhandeln. In den Diskursen nutzen die Akteur:innen u.a. bestimmte Normen, Rollenbilder, Narrative und Praktiken, die ihre Vorstellungen stärken und andere beeinflussen.
Diese Formen der Beeinflussung sind immer vorhanden und müssen grundsätzlich nicht problematisch sein. Denn sie können sogar eine Hilfe sein und mir eine Lebensweise aufzeigen, die ich gut finde und auf die ich von allein nicht gekommen wäre. Worauf es ankommt, ist eine Vielzahl von diversen Akteur:innen, die verschiedenartige Vorstellungen transportieren. Es darf nicht die eine mächtige Akteur:innen-Gruppe geben, die mit ihrer einen Vorstellung die Gesellschaft dominiert, sondern es müssen unterschiedliche Akteur:innen existieren, die Einfluss auf die Gesellschaft nehmen. Nur dann können Machtverhältnisse offen und flexibel werden.
Die gesellschaftliche Diversität ermöglicht mir dann eine Auswahl zwischen unterschiedlichen Vorstellungen und ich kann eine mündige Entscheidung treffen, indem ich mich bewusst für oder gegen etwas entscheide. So werden heute an mich verschiedene Rollenbilder herangetragen, wie die der Hausfrau, Mutter, Vollzeit-Arbeitende, Freiberuflerin, Gründerin, Aussteigerin und noch viele mehr. Im Vergleich zu den 1950ern ist mein Potential zur Selbstformung größer geworden, da dort Frauen von der Rolle als Hausfrau und Mutter dominiert wurden. Heute sind meine Möglichkeiten größer geworden, aber in Bezug auf Diversität weiterhin ausbaufähig.
Daher ist es logisch, dass wir eine pluralistische Gesellschaft benötigen, deren Bürger:innen sich nicht totalitär, sondern demokratisch verhalten, sodass unterschiedliche Lebensentwürfe realisiert werden können. Das klingt jetzt nach einer harmonischen Gesellschaft, aber eigentlich ist es das nicht. In einer pluralistischen Gesellschaft existieren diverse Akteur:innen mit teilweise konträren Vorstellungen von Leben, Rollen und damit verbundener gesellschaftlicher Ordnung, die ehr selten miteinander zu versöhnen sind. Es entstehen heiße Debatten und Dissens, da jede Partei ihre Vorstellungen gesellschaftlich etablieren möchte. Und würde man diesen Dissens verdrängen, dann würde damit die Pluralität verschwinden. Deswegen sollte eine mündige Gesellschaft Dissens, Streit, Widerstand und auch Protest umfassen und als wertvoll erachten. Die Akteur:innen sollten zwar miteinander streiten, sich aber nicht verdrängen oder eliminieren.
Und welche individuellen Faktoren helfen Menschen dabei Selbstformungen vollziehen zu können?
Es sind im Wesentlichen zwei Faktoren, die bedeutend sind: Eine starke Psyche und die Fähigkeit die eigenen Vorstellungen gesellschaftlich zu etablieren. Eine starke Psyche ist wichtig für Mündigkeit, da ich fähig sein sollte, mit der gesellschaftlichen Übergriffigkeit klarzukommen. Im ersten Schritt benötige ich dafür ein kritisches Reflexionsvermögen. Ich muss meine Perspektive und die Perspektiven anderer kritisch hinterfragen können, um die ständigen Beeinflussungen überhaupt erkennen zu können. Auch benötige ich eine Fähigkeit zum Widerstand, um mich nicht von den Vorstellungen und Handlungen meiner Mitmenschen fremdbestimmen zu lassen. Damit ich mich nicht an den Spannungen zerreibe, die durch den gesellschaftlichen Dissens entstehen, brauche ich eine Ambiguitätstoleranz – die Fähigkeit mit Unsicherheiten, mehrdeutigen Situationen und Spannungen zurechtzukommen. Das sind alles Fähigkeiten, die mir die Möglichkeit geben, mich vor den gesellschaftlichen Fremdbestimmungen zu schützen.
Gleichzeitig ist nicht zu vergessen, dass auch ich als Individuum Einfluss auf die Gesellschaft nehmen und sie mit meinen Vorstellungen prägen kann. Zwar ist meine Einflussnahme auf die Gesellschaft begrenzt, aber nicht unmöglich. Um die Gesellschaft prägen zu können, muss ich mich in gesellschaftliche Diskurse einbringen und dort für meine Vorstellungen von Gesellschaft und Leben werben. Wenn es mir gelingt viele weitere Akteur:innen von meinen Vorstellungen zu überzeugen – sodass sie diese annehmen und sie in ihrem Leben realisieren – kann ich Einfluss auf die Gesellschaft nehmen.
Es ist entscheidend, mich mit weiteren Akteur:innen zu verbünden und ein Narrativ zu stärken, das unsere gemeinsamen Vorstellungen voranbringt. Die Fähigkeiten mit anderen zu reden, zu verhandeln und andere zu überzeugen, können mir dabei helfen. Es sind Formen der politischen Teilhabe, die mir die Möglichkeit bieten meine Vorstellungen gesellschaftlich zu verankern.
Du prägst mit deiner Arbeit den Begriff »mündiges Design«. Inwiefern kann Design Mündigkeit ermöglichen?
Design spielt eine Rolle für Mündigkeit, da es als diskursive Praktik an Diskursen teilnimmt, die unsere Gesellschaft prägen. Diskurse führen wir nicht allein verbal durch das Sprechen miteinander oder durch Texte, sondern auch visuell und materiell. Wir Designer:innen nehmen daran teil, Narrative zu verbreiten, von denen bestimmten Akteur:innen profitieren und tragen dazu bei ihre Macht zu stärken. Denn eines ist sicher: Design ist eine stark beeinflussende, kommunikative Disziplin, die Menschen von etwas begeistern und überzeugen kann – sei es für die Rolle des Workaholics, der politischen Akteurin oder für eine totalitäre oder demokratische Gesellschaftsordnung. Wir gestalten Impulse, die zu Handlungen anleiten, wie dem Kauf eines SUVs, eines Fahrrads oder dem Reflektieren meines Konsumverhaltens. Ein Designartefakt steht nie für sich allein, sondern ist mit seiner Bedeutung und Wirkung in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettet. Wir als Designer:innen müssen uns das bewusst machen und uns fragen: Welches Narrativ greife ich auf? Wer profitiert von meinem Design? Und für wen kann mein Design problematisch werden?
Denn das ist wichtig sich klar zu machen: Es gibt kein Design, das alle Menschen gleichermaßen mündig macht. Indem es immer ein Narrativ referenziert, ergreifen wir als Designer:innen – bewusst oder unbewusst – Partei für bestimmte Akteur:innen, die von dem Narrativ profitieren. Mit dem Konzept »Mündiges Design« meine ich eine Designpraxis, die sehr bewusst die Selbstbestimmung von auserwählten Akteur:innen stärkt. Ich meine damit eine bewusste Parteinahme für ein Narrativ, eine bestimmte Vorstellung von gesellschaftlicher Ordnung und Leben. Und zudem begreife ich damit eine Designpraxis, die gesellschaftliche Machtverhältnisse reflektiert und Impulse gestaltet, welche zur Flexibilität und Vielstimmigkeit der Verhältnisse betragen. Daher kann es ein Weg sein, als Designer:in demokratische Akteur:innen zu unterstützen, deren Perspektiven und Vorstellungen bisher in Diskursen unterrepräsentiert sind.
Wie ist das Online-Magazin »Furore« entstanden?
Die Idee zu FURORE ist aus der Erkenntnis hervorgegangen, dass ich als Designerin Impulse für die Flexibilität der gesellschaftlichen Machtverhältnisse setzen kann. Einerseits wollte ich Akteur:innen unterstützen, deren Stimmen unterrepräsentiert sind. Und andererseits habe ich mich gefragt, von welchen Narrativen und gesellschaftlichen Vorstellungen ich persönlich eigentlich profitiere. So kam ich zu dem Entschluss, dass ich ein Magazin für Klimagerechtigkeit gründen möchte, das die Stimmen von Klima-Aktivist:innen stärkt. Denn ich mache mir Sorgen um meine Zukunft und frage mich, wie die Klimakrise mein Leben in 20 Jahren verändern wird. Ich beobachte aktuell sehr laute Akteur:innen, die den öffentlichen Diskurs mit Verharmlosungen von wissenschaftlichen Fakten über die Klimakrise dominieren, da sie Profit mit klimaschädlicher Wirtschaft erzielen oder davon abhängig sind. Noch immer wird zu wenig über die Bedrohung durch die Klimakrise berichtet und viele haben das Problem noch nicht erkannt. In diese asymmetrischen Verhältnisse möchte ich mit FURORE intervenieren.
Ich habe daraufhin Aktivist:innen von verschiedenen Bewegungen kontaktiert, mich mit ihnen ausgetauscht und gemeinsam die Formate des Magazins entwickelt. Denn die Zielgruppe von FURORE sind zum großen Teil die Aktivist:innen selbst, aber auch Sympathisant:innen der Klimagerechtigkeitsbewegung. FURORE ist dahingehend konzipiert und gestaltet, dass es Impulse setzt für Handlungen, die den Leser:innen Mündigkeit ermöglichen können. So gibt es Ressorts, die zur kritischen Selbstreflexion anregen und welche die Geschichten unterschiedlicher Menschen vorstellen. Das Magazin soll den Leser:innen diverse Handlungsoptionen und potenzielle Vorbilder aufzeigen, sodass verschiedene Identifikationspotenziale entstehen können. Es geht darum sich gegenseitig Mut zu machen und zu inspirieren. Und auch soll FURORE eine Plattform für das Wissen von Aktivist:innen sein, sodass Erfahrungen von Protestaktionen gesammelt und für alle zugänglich gemacht werden.
Die Arbeit an FURORE hat mich selbst sehr gestärkt, da ich mit so vielen inspirierenden und engagierten Menschen zusammenarbeiten und von ihn lernen konnte. Spannend war es mit den Fotograf:innen Michael Kohls, Annemie Martin, Barbara Haas und Giorgio Morra zusammenzuarbeiten, die sich schon länger fotografisch mit Protestbewegungen und der Klimakrise auseinandersetzen.
Hier geht’s zum Online-Magazin Furore