Das Grafikmagazin richtet sich vor allem auch an junge Gestalter:innen und Studierende, um ihnen möglichst früh den breiten Horizont des Grafikdesigns nahezubringen. Doch oft lernt auch die Redaktion vom Nachwuchs dazu und ist baff, welch sensationelle Projekte im Hochschulumfeld entstehen. So geschehen mit dem Buch »Aesthetics of Sustainability«, das wir in der aktuellen Ausgabe vorstellen und das die Ergebnisse eines Forschungsprojekts der ECAL beinhaltet. Masterstudierende im Bereich Produktdesign kollaborierten mit renommierten Materialspezialist:innen und Forscher:innen, um das ästhetische Potenzial der nächsten Generation nachhaltiger Materialien neu zu definieren.
Design muss systemrelevant sein
Manche journalistischen Stücke bleiben einem unweigerlich im Gedächtnis und rumoren dort noch eine Weile herum. Mir ging es so mit der Arte-Dokumentation »Design ist niemals unschuldig« von Reinhild Dettmer-Finke, die ich an dieser Stelle nicht nur empfehlen, sondern auch den darin interviewten Designtheoretiker Friedrich von Borries zitieren möchte: »Design kann alternative Lebensformen und gesellschaftlichen Wandel attraktiv machen«, plädiert er. Denn ja, Design mag zwar nicht völlig losgelöst von Konsum vorstellbar und ein Mitverursacher der globalen Klimakrise sein, und doch kann es sich die Logik des Kapitalismus aneignen für eine ganzheitliche Weiterentwicklung.
Einen ähnlichen Gedanken verfolgt das brillante Buch »Aesthetics of Sustainability – Material Experiments in Product Design« aus dem Triest Verlag, das mit vierzehn Fallstudien besonders Gestalter:innen eine Reihe von praktischen Werkzeugen und angewandtes Wissen vermitteln möchte. »The paradigm of the designer who ›only‹ conceptualizes and shapes products should now be a thing of the past. The role of the contemporary designer is to investigate and modify production processes in the interests of innovation and optimization«, schreibt der Schweizer Herausgeber Thilo Alex Brunner in seinem Vorwort. Zu Deutsch: »Das Paradigma des Designers, der ›nur‹ Produkte konzipiert und gestaltet, sollte der Vergangenheit angehören. Die Rolle des zeitgenössischen Designers besteht darin, Produktionsprozesse im Sinne von Innovation und Optimierung zu untersuchen und zu modifizieren.«
Designer:innen trifft in seinen Augen eine systemrelevante Verantwortung. Sie können und müssen mit ihren Entscheidungen kreislauffähige Produkte ermöglichen, längst bevor Unternehmen und schließlich Konsument:innen ins Spiel kommen.
Mit gutem Beispiel voran
So weit, so theoretisch. »Aesthetics of Sustainability« bietet noch viel mehr, nämlich eine saubere Auflistung 80 tatsächlich erprobter Materialien und Stoffe, derer sich die Designwelt konkret bedienen kann. Im Verlauf des Buches werden 14 davon weiter erforscht und in Fallstudien angewandt. Für die Ergebnisse des Forschungsprojektes waren Studierende und Dozent:innen der ECAL Kunsthochschule Lausanne verantwortlich, in deren Projektgruppen nicht nur experimentiert, sondern auch Prototypen von Produkten gebaut wurden. Zum Einsatz kamen spannende Materialien aus pflanzlichen Fasern wie Reisspelzen, Hanf, Flachs oder Holz, aber auch aus Textilabfällen, Recyclingpapieren oder Gummigranulat.
Mit gutem Beispiel geht das vorliegende Printobjekt selbst voran: »Ich dachte, dass ein Buch über Nachhaltigkeit keinesfalls ohne nachhaltige Papiere produziert werden sollte, also recherchierte ich dazu mit der Redaktion dieses Buches«, erzählt der Art Director Federico Barbon. »Schließlich fiel unsere Wahl auf die italienische Papiermarke Favini, die eine Reihe von nachhaltigen Papieren herstellt – und auch aktiv am Projekt Aesthetic of Sustainability beteiligt war, als eines der Unternehmen, die ECAL MA-Studenten Materialien zum Experimentieren zur Verfügung stellten. Diese Entscheidung lag quasi auf der Hand.«
Eine zeitgemäße Ästhetik von Nachhaltigkeit
Der Innenteil wurde auf dem Favini Shiro Alga Carta White in 120 g/m2 gedruckt, ein ressourcenschonendes Papier aus Algen. Das Cover besteht aus Kiwischalen, es wurde mit der Papiersorte Favini Crush Kiwi in 250 g/m2 umgesetzt. Es sei zwar schwierig gewesen, die Bilder für den Druck auf solchen Papieren vorzubereiten, doch er bekam tatkräftige Unterstützung von Carsten Humme und Frank Berger, die das Leipziger Lithografiestudio Humme betreiben und mit Recyclingpapiere sehr gut umgehen können.
An dem Buch, so erzählt Federico Barbon, war er etwa zwei Jahre beschäftigt, so lange wie auch die Forschungsprozesse der Masterstudierenden dauerte. Dabei durchforstete er riesige Mengen an Bildmaterial zu den Materialien, von den Studierenden, als auch der Fotografen Nicolas Polli und Maxime Guyon. Ein schöner Nebeneffekt sei gewesen, dass er sich intensiv einarbeiten musste: »Das Interessanteste überhaupt war das Durchstöbern der riesigen Vielfalt an nachhaltigen Materialien, die auf Alltagsgegenstände angewendet werden könnten, und die Wahrnehmung dessen verändern, was eine zeitgemäße Ästhetik von Nachhaltigkeit ist.« Und ja, wenn man hier so blättert, kann man sich diesen äußerst attraktiven gesellschaftlichen Wandel lebhaft vorstellen, den Friedrich von Borries für die Designszene ersonnen hat…
Text: Sonja Pham
Aesthetics of Sustainability. Material Experiments in Product Design
Thilo Alex Brunner (Hrsg.)
Buchgestaltung: Federico Barbon
272 Seiten, ca. 150 Abbildungen, Schweizer Broschur mit Klappen
Texte auf Englisch
ISBN 978-3-03863-062-3
€ / CHF 39,-