Der Stop-Motion-Film feiert ein großes Comeback, das Thema KI ist in aller Munde und Film-Legenden wie Nick Park, Wes Anderson und Terry Gilliam geben sich ein Stelldichein. Auch in diesem Jahr lockte das Trickfilmfestival in Annecy Tausende von Gästen in die französischen Alpen, Jürgen Keuneke war für das Grafikmagazin vor Ort.
Das Internationale Trickfilm-Festival von Annecy mitten im Juni 2024 – weltweites Mekka für alles rund um Animation – war noch größer als die Veranstaltung im Jahr davor. Das Organisationsteam von Festival-Leiter Marcel Jean musste diesmal einige Weichen neu stellen, damit die Veranstaltung mit dem angeschlossenen Trickfilmmarkt MIFA nicht vollends aus den Nähten platzt. Die Balance zwischen unabhängigem Autorenfilm und den immer dominanter werdenden großen Studios soll nicht aus dem Gleichgewicht geraten. 17.000 akkreditierte Besucher bedeuteten, dass sich 3000 Badge Holder mehr als 2023 in die Veranstaltungen (Film-Wettbewerbe/ Konferenzen/ Workshops u.v.m.) einbuchen wollten! Am Stichtag für das Online-Ticketing waren innerhalb von 20 Minuten die beliebtesten Programme alle bereits ausgebucht! Schließlich mussten zusätzliche Screenings und mehr Wiederholungen von Programmpunkten angeboten werden, um zu lange Warteschlangen vor den Veranstaltungsorten zu vermeiden. Dies gelang dieses Jahr allerdings noch nicht ganz im befriedigenden Maße und sollte evaluiert werden.
Ein Phänomen des Festivals ist die ungebrochene Beliebtheit des Stop-Motion-Films, der diesmal ein großes Comeback feierte. Auch der Animation-Nachwuchs verehrt dieses traditionelle Genre! Der Netflix-Kongress im Bonlieu-Theater war die beliebteste Veranstaltung, denn Aardman Animation aus Bristol stellte den lang erwarteten neuen Film um seine Claymation-Helden »Wallace & Gromit« vor. Ihr Erfinder, die Animations-Legende Nick Park (u.a. auch »Creature Comforts«, »Shaun the Sheep«, »Chicken Run«) war vor Ort, um den neuen Streifen »Wallace & Gromit: Vengeance most Fowl« zusammen mit Chef-Animator Merlin Crossingham selbst vorzustellen (und stundenlang im Foyer des Bonlieu Autogramme zu geben).
Die Fans feierten neben »W&G« dabei auch die unerwartete Rückkehr eines der fiesesten Gegenspieler des Duos: Der geflügelte Meister-Dieb Feather (ein als Huhn verkleideter gefährlicher Pinguin), der bereits in »The Wrong Trousers« dabei war, treibt erneut sein Unwesen. Ein Teil des fertiggestellten Stop Motion-Films hatte nun in Annecy seine Premiere für die Trickfilm-Liebhaber, bevor der gesamte Streifen Ende des Jahres in der BBC und auf Netflix für alle Zuschauer zu sehen sein wird. In Annecy wurden im Bonlieu-Centre auch Original-Figuren des neuen »W&G«-Films in einer Ausstellung präsentiert. Aardmans Animator Adrian zeigte hier den Besuchern auch technische Details der Plastilin-Figuren und animierte beispielhafte Bewegungsabläufe.
Das zusätzliche Stop-Motion-Sahnehäubchen war dazu der Gewinn des Haupt-Awards »Kristall von Annecy“ für den Langfilm »Memoir of a Snail« von Adam Elliot aus Australien, der eine hochemotionale Geschichte rund um ein Zwillings-Geschwisterpaar erzählt, die als Waisen auseinandergerissen werden. Neben der herausragenden Puppentrick-Animation überzeugte der Film aber auch (neben seiner ausgefeilten Story) mit seinem Humor! Die weibliche Hauptfigur Grace Pudel leidet unter fehlendem Selbstbewusstsein, zieht sich gerne in ihr »Schneckenhaus« zurück und sammelt zudem alles, was über Schnecken so auf dem Markt an Artikeln, Bildern und Skulpturen zu finden ist. Die Einzigartigkeit dieses Trickfilms – eine Ode an Lebensmut, Liebe und Freundschaft – kann man nicht mit Worten beschreiben. Man muss das Feature einfach gesehen haben!
Elliot, der bereits 2004 einen Oscar für seinen Puppentrickfilm »Harvie Krumpet« gewann, sagt über seinen neuen Film (an dem er mit seinem Team ganze 8 Jahre arbeitete): »Auch für mich selbst war das Machen des Films eine Art Therapie. Wie unsere weibliche Hauptperson in ihrem fiktiven Leben habe ich während des kreativen Prozesses viel dazugelernt. Stop Motion ist eine langsam entstehende Kunstform. Da kann man sich mit jedem Detail ausgiebig beschäftigen. Der Herstellungsprozess bringt auch Spontanität mit sich. Nicht alles wird so umgesetzt wie ursprünglich geplant. Der Animation-Prozess verändert in der Praxis manches. Vieles wird oft dann sogar besser mit neuem Ausdruck: Lustiger und prägnanter!«
Das Thema KI ist ja multimedial in aller Munde und wird neben dem Einsatz im Realfilm auch in der Animation-Szene mehr und mehr diskutiert. Neben der VR-Sektion des letzten Jahres richtete die Festival-Organisation diesmal in Annecy auch den neuen Bereich »XR & Games Area« (1.000 m² groß) ein. In seinem Rahmen gab es einen Workshop für Trickfilm-Kreation unter Zuhilfenahme von künstlicher Intelligenz. Im Einsatz war über die gesamte Festival-Woche eine Testgruppe, die im Praxistest »Animation & Artificial Intelligence« schließlich ein durchwachsenes Fazit zog. Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bis KI-Softwareeinsatz die Trickfilm-Schaffenden in der Praxis überzeugen kann. Selbst die jüngeren Kreativen waren von den Ergebnissen, die im Test beim Machine Learning, in der Verbindung »Phantasie und Realität« herauskamen, nicht überzeugt.
Den Verantwortlichen des Annecy-Festivals ist nicht verborgen geblieben, dass es deutliche Kritik besonders der künstlerischen Trickfilmer am Event gibt, das vielen von ihnen mittlerweile zu sehr in den Mainstream abgleitet. Aber durch mehr Plattformen für den animierten Film, allen voran auch die Streaming-Dienstleister, ist für das Festival der kommerzielle Druck immer größer geworden. Immerhin ist für Annecy auch der angeschlossene Trickfilmmarkt MIFA ein immer weiterwachsendes Standbein. Dieser Marktplatz für Filme, Projekte, Arbeitsplätze und Merchandising ist ebenfalls der wichtigste und größte seiner Art auf der ganzen Welt. Firmen präsentieren sich hier, zeigen neue Software und andere Produkte. Im benachbarten Imperial-Palast finden Kongresse, Workshops und Besprechungen statt. Auch gefeiert werden kann hier abends direkt am See von Annecy. Eines der Highlights war zur Eröffnung der MIFA der »Deutsche Empfang«, organisiert u.a. durch German Films, der AG Kurzfilm und der Filmakademie Baden-Württemberg. Hier konnte sich das Fachpublikum intensiv über New German Animations informieren.
Dieses Jahr schrieb Annecy nicht nur bei der Teilnehmerzahl neue Rekorde! Trickfilmschaffende aus 103 Ländern tummelten sich 2024 auf dem Festivalgelände rund um das Bonlieu-Center mit seinen beiden Theatern, in der mittelalterlichen Altstadt mit dem Film-Saal »Pierre Lamy«, der angrenzenden Neustadt mit dem Pathé-Multiplex, einigen anderen Kinos und dem Veranstaltungskomplex rund um den Imperial-Palast (mit der MIFA). Ausstellungen im Bonlieu-Centre direkt, im Schloss von Annecy und dem städtischem Trickfilm-Museum rundeten das Ganze ab.
Es gab weitere interessante Filmprojekte, die in Annecy neu vorgestellt wurden. Der Director von Justice League, Zack Snyder, stellte mit »Twilight of the Gods« einen neuen 2D-Zeichentrickfilm vor, der in der skandinavischen Mythologie spielt. Hier wird die Vorgeschichte erzählt, die schließlich zur Zerstörung von Midgard und Asgard führt. Snyder wurde im Diskussionsforum unterstützt von der Producerin Deborah Snyder und Director Silmane Aniss vom ausführenden Studio Xilam Animation. Shannon Tindles amerikanischer Superhelden-Zeichentrickfilm »Ultraman: Rising« feierte in Annecy 2024 ebenfalls Premiere, begleitet von Making-of-Einblicken des Produktionsteams. Eine kleine Sensation gab es in Annecy für alle Liebhaber des traditionellen Zeichentrickfilms, denn Warner Brother stellt einen brandneuen Film der berühmten »Looney Toons«-Reihe vor. Unter dem Motto »Porky Pig and Daffy Duck reunite, and that’s not all, folks!« produzierte Director Peter Browngardt mit »The Day the Earth blew up« einen lange erhofften Langfilm mit den Helden aus alten Trickfilm-Zeiten. Die Premiere des Filmes wollte Browngardt unbedingt in Annecy feiern!
Neben Trickfilm-Legenden wie Henry Selick, Peter Lord und Nick Park waren noch andere Größen des Trickfilmschaffens in Annecy vor Ort, um sich in Diskussionsrunden, Workshops und Signierstunden dem interessierten Nachwuchs zu präsentieren: Director Wes Anderson (u.a. »Fantastic Mr. Fox«/ »Grand Budapest Hotel«) und Star-Cartoonist und Director Terry Gilliam (u.a. »Monthy Pyton«) stellten ihr Schaffen und ihre Karriere vor.
Der traditionelle 2D-Zeichentrickfilm – einst der Leuchtturm gerade der westlichen Trickfilm-Welt – ist nach seinem noch immer unverständlichen Aus bei Disney und dem Siegeszug von 3D-CGI nicht verschwunden! Er ist einfach weiter gezogen nach Fernost, wo er durch seinen Einsatz besonders im asiatischen Animé-Genre jetzt immer erfolgreicher wieder nach Europa zurückkommt. Dies ist auch einer der Gründe dafür, dass der Animationsfilm einen Boom feiert und allerorten besonders junge Menschen begeistert. Fehlt im Westen jetzt für große professionelle Zeichentrickfilm-Projekte die zeichnerische Manpower durch die Vernachlässigung des 2D-Zeichentrickfilms, springen einfach asiatische Animator:innen und Studios in die Bresche.
Weil die wichtigen 2D-Fachleute zurzeit in Asien arbeiten, wird der neue 2D-animierte »Herr der Ringe«-Film »War of the Rohirrim« in Zeichentrick-Umsetzung in Fernost produziert. Mit einem japanischen Director – Kenji Kamiyama – aber den bekannten Produzent:innen rund um Peter Jackson. Das Jackson neben Fran Walsh Executive Producer ist, wurde als große News in Annecy bekannt gegeben, wo ein bereits fertig produzierter Teil des Films seine Premiere feierte. Jackson schaltete sich den Annecy-Zuschauern per Video zu. Der fertige »HdR«-Animationsfilm wird Weihnachten 2024 bei uns in den Kinos zu sehen sein. Gollum/Smeagol-Darsteller Andy Serkis, bekannt aus den Tolkien-Realfilmen von Peter Jackson und selbst Regisseur des kommenden realen HdR-Brückenfilms »Herr der Ringe: Hunt for Gollum«, stellte »War of the Rohirrim« im Bonlieu-Theater persönlich auf der Bühne vor und geisterte mit seiner typischen Gollum-Stimme später auch durch andere Annecy-Programme.
Aus Deutschland hatte Annecys Vorauswahl-Jury ein großes Kontigent an Filmen in die Programme 2024 geholt. Als Langfilm lief »Sultana’s Dream« (ein künstlerisches Statement für die Gleichberechtigung von Frauen in allen Kulturkreisen) von Isabel Herguera und dem Studio Fabian & Fred in der Feature-Competition. Bei den Kurzfilmen starteten die Shorts »Joko« von Izabela Plucinska und »Moral Support« von Vuk Jevremovic. Neben weiteren Filmen in Nebenprogrammen waren bei den Studentenfilmen »Moving Mountains« von Jessica Poon (Medienakademie Köln) und »Carrotica« von Daniel Sterlin-Altmann (Film-Uni Babelsberg) im Wettbewerbsprogramm. Im Bereich VR konnten Marion Burger und Ilan Cohen (Reynardsfilms) die Applikation »Emperor« vorstellen. Weitere deutsche Produktionen gab es in den Off Limits- und Commissioned-Films-Programmen zu sehen. Trotz immer geringer ausfallender Filmförderung in Deutschland gab es hier viel Qualität zu bestaunen, die auch schließlich mit der Vergabe von großen Awards von den unterschiedlichen Annecy-Jury-Mitgliedern gewürdigt wurden. Hier die wichtigsten Annecy-Preise 2024, im Überblick zusammengefasst:
Kristall für Langfilm: »Memoir of a Snail« / Adam Elliot (Australien)
Jury Award Langfilm: »Flow« / Gints Zilbalodis (Frankreich, Belgien und Litauen)
Paul Grimauld Award Langfilm: »The little Girl at the Window«, Shinnosuke Yakuwa, (Japan)
Kristall für Kurzfilm: »Percebes« / Alexandra Ramires und Laura Concalves (Portugal und Frankreich)
Contrechamp Grand Prix: »Sultana’s Dream« / Isabel Herguera, Fabian&Fred (Spanien, Deutschland)
Publikumspreis Langfilm: »Flow« / Gints Zilbalodis (Frankreich, Belgien und Litauen)
Kristall & Jury Award & Publikumspreis TV-Film: »The Drifting Guitar« / Sophie Roze (Frankreich und Schweiz)
Kristall für Studentenfilm: »Carrotica« / Daniel Sterlin-Altmann (Deutschland/ Film-Uni Babelsberg)
Best Original Music Award: »Joko« / Aliaksandr Yasinski (Deutschland, Polen)
Kristall für TV-Werbung: »Pictoplasma – Opener 2023« / Will Anderson (Großbritannien)
Jury-Award TV-Serie: »My life in Versailles: Versailles Ghost« / Nathaniel H´Limi (Frankreich und Luxemburg)
Kristall für beste VR-Arbeit: »Gargoyle Doyle« / Ethan Shaftel (USA/Argentinien)
Festivals Connexion VR-Award: »Emperor« / Marion Burger und Ilan Cohen (Frankreich und Deutschland)
Der mit dem Kristall von Annecy ausgezeichnete Kurzfilm »Percebes« aus dem diesjährigen Annecy-Festival-Gastgeberland Portugal beeindruckte die Preis-Jury neben seinem Inhalt durch seine gute Animation und den künstlerischen Ausdruck im Stil der Umsetzung. Die Geschichte zeigt das natürliche Leben von Menschen an der Algarve und deren alltägliches Leben mit Flora und Fauna. Eingebunden wird die detaillierte Darstellung des gesamten Lebenszyklus der Weichtier-Molluskenart Percebes als »roter Faden« durch den ganzen Film. Die Existenz der normalen Bevölkerung in dieser Region am Meer (unter Einbindung von sanftem Tourismus) soll durch das gelungene künstlerische Werk vom Zuschauer besser verstanden werden.
Es lohnt sich für jeden Film- und Kunstinteressierten, das Annecy-Festival auch im nächsten Jahr wieder zu besuchen. Es gibt keinen besseren Platz, all die verschiedenen Stile nebeneinander zu sehen und sich einen Überblick über das gesamte Spektrum des Animationsfilms zu verschaffen. Auch verschiedene bekannte künstlerische Handschriften, von der Kunst der Moderne bis zur gegenwärtigen Kunst, gibt es besonders im Autorenfilm in bewegten Bildern zu bestaunen. Stop Motion mit Sach-, Puppen- und Knetanimation. 2D-Zeichentrick, Legetrick und CGI-3D-Computeranimation in allen Schattierungen und VR-Anwendungen! Erstaunliche Geschichten und Produkte in hoher Qualität auf der Kinoleinwand genießen, in einer idyllischen naturnahen Umgebung, mit schöner mittelalterlichen See-Stadt in den französischen Alpen. Mehr geht eigentlich nicht! Allerdings sollte das Annecy-Festival zukünftig auf noch größeres Wachstum verzichten im Kontext der jetzt schon ausgereizten zur Verfügung stehenden Ressourcen. Es wäre für die Trickfilm-Kunst wichtig, zudem dem wachsenden Druck der Major-Studios zu trotzen. Die kleinen Studios, die Autorenfilmer, die Trickfilm-Studierenden und die Liebhaber unterschiedlichster traditioneller und ausgefallener animierter Stil-Arten würden dies dem Organisations-Team um Marcel Jean danken!
Autor: Jürgen Keuneke
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