Anfangs wurde sie als Außenseiterin eher belächelt und doch gelang Angela Merkel eine Karriere, die ihresgleichen sucht. In 37 Jahren wandelte sich Angela Merkel vom »Mädchen« zu einer der einflussreichsten Politikerinnen weltweit, die Fotografin Herlinde Koelbl begleitete sie auf ihrem Weg. Zum Abschluss der Ära Merkel wird das faszinierende Langzeitprojekt nun in Buchform veröffentlicht.
War es die Macht, die Angela Merkel so sichtbar veränderte oder ganz profan die Zeit? Von 1991 bis 2021 porträtierte Herlinde Koelbl die Politikerin bis auf eine kurze Unterbrechung jedes Jahr. Immer entstanden Kopf- und Körperporträts vor einem nüchternen weißen Hintergrund. Doch Koelbl fotografierte nicht nur, sie wollte auch mehr über die Person wissen und kam mit ihren Fragen Angela Merkel so nahe, wie wohl sonst nur wenige.
Obgleich sie fast vier Jahrzehnte massiv im Rampenlicht stand, ist über Angela Merkel privat nur wenig bekannt. Man kennt ihren Mann, weiß, dass sie Wagner-Opern mag, bodenständig kocht und Urlaube beim Wandern in Südtirol verbringt. Alles an Angela Merkel scheint auszudrücken: Hier geht es um Politik, nicht um mich und meine Person. Vielleicht machte sie genau das so bemerkenswert und außergewöhnlich in einer Welt, in der große Egos eine Grundvoraussetzung zu sein scheinen oder zumindest eine gängige Berufskrankheit.
Doch natürlich gingen 37 Jahre Spitzenpolitik auch an Angela Merkel nicht spurlos vorüber. Die Gespräche mit Herlinde Koelbel dokumentieren, wie sich die junge Politikerin veränderte und verändern musste, welche Auswirkungen die Politik auf ihr Privatleben hatte und was sie lernen musste, um politisch zu überleben. Erstaunlich offen gab die sonst so zurückhaltende Politikerin der Fotografin Auskunft über ihr Leben und persönliche Strategien, um mit den Belastungen ihres Alltags zurecht zu kommen. Bekam die junge Politikerin in den 90er-Jahren schon nach wenigen Urlaubstagen Entzugserscheinungen, gelang es ihr im Lauf der Zeit immer besser, abzuschalten und vor allem Dinge nicht an sich heranzulassen. Im Gegensatz zu anderen vermied Merkel unnötige Kämpfe und verstand sich in erster Linie als Problemlöserin, über ihre historische Rolle sollten sich andere Gedanken machen.
Ein Moment, der gewiss Eingang in die Geschichtsbücher finden wird, sind das Jahr 2015 und die Öffnung der Grenzen für Flüchtende, die Merkle verfügte. »Es gehört dazu, dass man als Politiker auch einmal beschimpft wird. Das ficht mich jetzt nicht weiter an«, erzählte Angela Merkel Herlinde Koelbl. Was sie aber offensichtlich sehr mitnahm, war angefeindet zu werden, weil sie in einer Notsituation »ein freundliches Gesicht« zeigte.
Über all die Jahre hinweg ist Herlinde Koelbl ein dokumentarisches Porträt gelungen, das fotografisch ebenso spannend ist, wie menschlich. Dass die beiden Frauen eine besondere Beziehung verbindet wird von Seite zu Seite deutlicher und macht den schwergewichtigen Band zu so viel mehr als einer bloßen Ansammlung von Porträts.
Angela Merkel wurde lange nicht recht ernst genommen, vielleicht lag es an ihrem Alter, vielleicht daran, dass sie eine Frau war. »Viele bemerkten nicht ihren Ehrgeiz und unterschätzten sie«, erinnert sich Koelbel. »Sie verhielt sich wie eine exzellente Schachspielerin, analysierte und lernte. Dachte in größeren Zeitläufen, wie eine Strategin. Schon 1996, als Umweltministerin, sagte sie mir, dass sie ihren politischen Gegenspieler Gerhard Schröder ›irgendwann in die Ecke stellen werde. Ich brauche dazu noch Zeit, aber eines Tages ist es so weit. Darauf freue ich mich schon.‹« Wenn man sich an die Elefantenrunde nach Schröders verpatzter Wahl erinnert, liest man Zeilen wie diese fast schon mit Schadenfreude.
»Angela Merkel hatte ihr Ego im Griff. Die Männer ihres nicht immer« erinnert sich die Fotografin, doch Merkel verstand es auch, Fäden zu ziehen, andere vorzuschicken, zu taktieren und anzugreifen. Und vieles war ihr lästig, so anfangs auch das Projekt von Herlinde Koelbel und der Fotografin gegenüber bekannte sie offen: »Ich habe mich alles andere als gefreut, wenn Sie wieder vor der Tür standen. Ich dachte: Was soll der Quatsch? Das Buch erscheint ja erst in (…) Jahren, man muss heute in der Presse auftauchen. Doch dann merkte ich, dass ich mich plötzlich gefragt habe: War Frau Koelbl in diesem Jahr eigentlich schon da? Ich musste also feststellen, dass ich offensichtlich doch eitel genug bin, Ihr Projekt interessant zu finden. Heute verbindet mich eine Art Corporate Identity damit.«
Tatsächlich ist diese Analogie recht zutreffend, das Buch »Angela Merkel. Portraits 1991–2021« liest sich einerseits wie eine Art fotografisches Design Manual zu Angela Merkel, zugleich eröffnet es ungeahnt persönliche Einblicke in das Leben der außergewöhnlichen Politikerin. Nur wenige »Global Leader« waren so lange im Amt wie Angela Merkel, keiner wurde auf so eindringliche Weise und so lange Zeit dokumentarisch begleitet. 30 Jahre lang arbeitete Herline Koelbel an diesem Projekt, seit 2009 im Geheimen, niemand wusste, dass sie jedes Jahr die Kanzlerin traf. Nun zum Ende der Amtszeit von Angela Merkel lüftet die Fotografin den Schleier und lässt die Öffentlichkeit teilhaben an diesem Projekt und der daraus entstandenen Freundschaft.
Für Herlinde Koelbl, die schon mehrfach für ihr umfangreiches Schaffen ausgezeichnet wurde, war es nicht das einzige Langzeitprojekt, doch für Leser und Leserinnen ist dieses Projekt besonders faszinierend, weil es einem für Deutsche so ungeheuer vertrauten Gesicht ganz neue Facetten hinzufügt.
Das Buch »Angela Merkel. Portraits 1991–2021« erscheint am 15. November im Taschen Verlag.
Buchpräsentationen finden in folgenden Städten statt:
24. November 2021, Literaturhaus, Stuttgart // 30. November 2021, Literaturhaus, München // 9. Dezember 2021, Goethe-Institut, Brüssel
Angela Merkel. Portraits 1991–2021
Herlinde Koelbl, Taschen Verlag
Hardcover, 30 x 30 cm, 2,68 kg, 248 Seiten
50,– Euro
Die Zeit hat Menschen, die im Laufe der Jahrzehnte persönlich mit Angela Merkel zu tun hatten, die Bilder von Herlinde Koelbel vorgelegt und ihre Kommentare und Erinnerungen festgehalten. Nachzulesen unter Zeit Online.
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