Wenn Sie diese Zeilen lesen, flaniert Martina Miocevic möglicherweise gerade durch einen Supermarkt in New York City. Die Mainzer Gestalterin, die seit fast zehn Jahren das Designstudio Mathilda Mutant betreibt, nimmt sich eine kleine Auszeit und verbindet das Angenehme mit dem Nützlichen: Nirgends kommen ihr so gute Ideen für Verpackungen. Von ihren Reisen bringt sie Unmengen Tütchen, Schächtelchen und Kästchen nach Hause zurück und lässt sich bei ihren darauffolgenden Aufträgen von allem inspirieren, was ihr begegnet ist. Ein Gespräch über ihr absolutes Herzensthema: Packaging.
Mati und ihre Verpackungen, eine ganz besondere Liebe. Woher rührt die? Und worauf freust du dich am meisten, wenn du in New York in den Supermarkt gehst?
Supermärkte sind mein Hobby! Haha! Auf der ersten New-York-Reise habe ich meine Liebe zu Packaging entdeckt! Dort habe ich in Williamsburg in eine Whole-Foods-Filiale besucht und habe gefühlt jedes Regal abfotografiert und jedes einzelne Produkt bestaunt, weil ich so fasziniert war: Wie toll sieht das Bier-Etikett aus? Wie mega ist diese Seife bitte?! Ich bin erst nach zwei Stunden wieder herausgekommen, mein Freund war schon völlig angenervt. (lacht) Egal ob Wasserflaschen, Mac’n-Cheese-Tüten oder das Gemüseregal – die Ästhetik hat mich extrem fasziniert. Wenn man in Deutschland die Supermärkte besucht, sieht hingegen alles bodenständig und standardmäßig aus. In den USA ist mir erstmals bewusst aufgefallen, dass man diesen Standard aufbrechen kann und die Brands den Mut haben, neue Wege zu gehen und Ungewöhnliches auszuprobieren. Auf Reisen fühlt sich ein Supermarkt für mich an wie ein Museumsbesuch – darauf freue ich mich sehr.
Du betrachtest deine Reisen also auch als Feldforschung?
Ja, ich sammle vieles, was mir gefällt. Bei Design heißt es ja oft, wie auch bei der Musik: Design is a Remix. Mal siehst du hier eine Farbe die dir gefällt, mal ist es eine besondere Veredlung, mal ein Muster auf dem Fliesenboden oder ein schönes haptisches Papier. Alles was mir begegnet und mich inspiriert und ungewöhnlich ist, versuche ich in neue Projekte einfließen zu lassen (wenn es zum Projekt passt).
Deswegen ist Reisen für mich so wichtig, weil ich nicht dort inspiriert werde, wo ich arbeite, sondern wenn ich mein gewohntes Umfeld verlasse. In jedem Urlaub gehe ich seither in die Supermärkte, Museen und an verschiedene Orte und sammle Inspirationen. Zurück in Mainz greife ich auf diese Eindrücke zurück.
Teilweise hebe immer noch Packungen von vor zig Jahren auf, bei denen ich nicht wissen will, was sich mittlerweile für Leben gebildet hat. (Lacht) Von den Farben über die Typo bis hin zur Haptik – ich wertschätze sie so sehr.
In Deutschland gibt es viele Vorgaben, zum Beispiel dürfen bestimmte Lebensmittel nur in Alufolie oder Plastik eingepackt werden. Neulich war ich in Island, wo Schokolade in Pergamentpapier gewickelt war – viel umweltfreundlicher. Leider gibt es in Deutschland strengere Regeln, was Lebensmittel betrifft.
So wie du deine Erfahrungen mit experimentellen Packagings an der deutschen Bodenständigkeit spiegelst, würdest du sagen, dass in anderen Ländern Nahrung anders zelebriert wird, weil eine fantastische Verpackung ja auch mit Wertschätzung einem Produkt gegenüber zu tun hat?
Das kann ich zu 100% unterschreiben. Ich sage meinen Kunden: »Das, was ihr im Inneren verkörpert, müsst ihr nach außen spiegeln! In dem Moment, in dem du hinter dem Produkt stehst und sagst: »Das bin ich! Das ist mein Produkt«, verkauft es sich automatisch auch besser. Man darf nicht ausschließlich nach der Zielgruppe gucken, sondern auch nach seinen eigenen Bedürfnissen schauen. In ein paar Punkten natürlich schon, aber wenn du das Produkt nicht hinter dem Produkt stehst, wird man es dir auch nicht abnehmen.
Wie läuft bei dir ein Gestaltungsprozess ab? Kommen Kund:innen auf dich zu und erzählen von ihrer Idee, möchten dich als Verpackungsspezialistin dabei haben und geben dir völlig freie Hand? Oder kommen sie mit eigenen Vorschlägen und Richtungen, die sie einschlagen wollen?
Sehr unterschiedlich, am liebsten natürlich mit völlig freier Hand. Nach einem Erstgespräch und vor der ersten Präsentation bildet ein Moodboard die Basis für alles was kommt. Hier wird alles zum jeweiligem Thema recherchiert, gesammelt und visuell zusammengetragen. Aber auch Sachen, die Out-of-the-Box sind, aber gut reinpassen könnten, fließen hier rein. Damit erhalte ich ein gutes Bild von dem, was Kund:innen sich von der zukünftigen Gestaltung wünschen. Das Moodboard schauen wir uns gemeinsam an, dazu habe ich einen Fragebogen entwickelt: Welche Farben sprechen dich an? Welche Typografie sticht für dich heraus?, und so weiter. Damit möchte ich komplett produktunabhängig die Sprache herausfinden, die der Kunde sprechen möchte. Meist bekomme ich ein kommentiertes Dokument zurück: Das mag ich, das mag ich nicht. Auf diese Weise verstehe ich, aha, der Kunde mag kein Orange und Serifenschriften gehen gar nicht. Das ist auch für Kunden ein wichtiger Moment: Sie werden verstanden und abgeholt. Sie haben das Gefühl, mitbestimmen zu dürfen. So beginnt für mich der Designprozess und gerade beim Packaging gibt es viele Details zu beachten: Wie groß ist ein Produkt, wie muss es im Regal funktionieren, wann ist es perfekt lesbar? Bei meinem Auftrag für die Confiserie Walter wurde ich zum Beispiel mit in die Fabrik mitgenommen, um die Produktion zu verstehen und alte Schränke zu durchforsten nach alten möglichen Designelementen. Dort fanden wir einen alten Sticker mit einem Bärenlogo, der bei einem Redesign verbannt wurde. Den wollten wir mit seinem besonderen emotionalen Charakter unbedingt wieder aufnehmen. Schließlich fuhr ich die Stores und habe mir den Gesamtkomplex angeschaut, um mir das komplette Branding wirklich vorstellen zu können.
An welcher Stelle würdest du mit deinen Kund:innen über nachhaltige Verpackung sprechen?
Von Anfang an, die Werte der Firma müssen als allererstes thematisiert werden. Meine Überzeugung ist, dass ich als Designerin Verantwortung dafür trage, Aufklärungsarbeit zu leisten. Gerade dann, wenn ein Kunde mit diesem Thema nach außen strahlen möchte. Mir ist wichtig, Optionen aufzuzeigen, was durch Optik und Haptik möglich ist und dass Nachhaltigkeit nicht gleich grün sein muss. Das kann man auch anders kommunizieren. Darum geht es schon in den Erstgesprächen. Es ist wichtig, Prozesse zu optimieren und weniger Verpackungsmüll zu produzieren.
Lassen da die Kund:innen gern mit sich reden? Oder geht das auch mal nach hinten los, dass sie sich bevormundet fühlen?
Als Designer schlägt man ja oft Papiere oder Drucktechniken vor, da versuche ich nichts vor zu stellen, was nicht in eine nachhaltige Richtung geht. Ausser bei Heißfolie, das ist immer noch so ein kritischer Punkt: ich liebe sie weil Veredelungen so vieles aufwerten können, frage mich aber welche Lösung man finden kann, die umweltschonender ist.
Aber das Wichtigste ist, anzufangen. Ich sage Kund:innen oft: Vielen kleine Schritte machen am Ende den ganzen Weg. Kleinigkeiten, mit denen man anfängt, in die richtige Richtung zu steuern, anstatt stehenzubleiben.
Hast du rückblickend eine Lieblingsverpackung in deinen Projekten?
Ich liebe die handschriftlichen Flaschenetiketten, die ich fürs Weingut Hees-Auen-Nahe gemacht habe. Zuvor hatte ich für die Winzer eine Basislinie entwickelt und für ihre Serie unfiltrierter Weine wollten sie etwas Neues ausprobieren. So sind aus Zufall diese »Fünf-Minuten-Etiketten« ,wie wir sie nennen, entstanden: Riesling, Weisburgunder, Petnat, quick and dirty über die Basis gescribbelt, um das klassische, grafische Etikett zu durchbrechen. Das sehe ich mir wirklich gerne an und denke: Die Basis war gelegt, und dann konnten wir ausrasten! (lacht)
Die »JOKOLADE« war auch ein sehr besonderes Herzens-Projekt. Es ist die Schokolade des Moderators Joko Winterscheidt mit einer besonderen und tollen Mission: moderne Sklaverei und illegale Kinderarbeit zu durchbrechen und sklavenfreie Schokolade zu etablieren. Aber was ich hier auch liebe ist, dass diese optische Basis im Regal durchbrochen worden ist. JOKOLADE leuchtet neben den anderen Schokoladen hervor und die Konsumenten freuen sich darüber, greifen ins Regal, auch wenn das Produkt etwas mehr kostet als die Masse, die bei 80 Cent liegt. Das macht glücklich. Dieses Projekt entwickelt sich stetig weiter: Sondersorten und neue Sorten kommen hinzu, bei denen wir ebenso das Innenleben der Verpackung ausnutzen, um Künstler vorzustellen, thematische Wimmelbilder abzudrucken oder besonderen Informationen einzubauen. Diese Marke lebt wirklich und gibt mir als Gestalterin die Möglichkeit, kreativ zu explodieren.
Für die Walter Confiserie durfte ich nicht nur eine Verpackung gestalten, sondern ein komplexes System, das im Ganzen funktioniert. Die Inhaberin Caroline Thiedig gab mir in vielen Punkten völlige Freiheit, alles neu anzugehen. Irgendwann im Meeting kamen wir darauf, mit Berliner Wörtern zu arbeiten, machten eine Sammlung: Warum nennen wir die Familienmischung nicht »Mischpoke«? Und die klassische Schnapspralinen »Etepetete«? Die Nougatpralinen heißen jetzt »Amüsemang«, es gibt »Remmidemmi«, »Veganös« und »Marzahnipan«. Sie war sehr offen für viele neue Ideen, was einen als Gestalter glücklich macht, man viel mehr motiviert ist, weil man Teil der Entwicklung ist.
Natürlich denke ich aber auch an die Winzerin Juliane Eller, die meine erste Kundin war. Wenn ich das Produkt sehe, das ich für sie gestaltet habe, und es funktioniert immer noch, obwohl es schon acht Jahre alt ist, dann ist das wahnsinnig toll.
Das finde ich sehr schön ausgedrückt. Das muss man erstmal schaffen, dass man sich so verwirklicht mit dem eigenen Gusto, dass man sich sogar als Teil der Marke fühlt.
Wenn auf deine Expertise gehört wird, ist das sehr viel wert. Mir ist wichtig, dass der Kunde sich sieht. Eine meiner Kundinnen, Franzi von Hardenberg, hat beispielsweise meine bunte Seite gelockt. Zuvor dachten alle, ich sei total minimalistisch, durch die verschiedenen Jobs im Vorfeld. Dabei bin ich eigentlich gar nicht minimalistisch! (lacht) Franzi hat mir erstmals die Möglichkeit gegeben, in einem Corporate Design farblich völlig auszurasten. Pink, Orange, Blau, Lila, Rosa. Irgendwann hatte sie auch ihren eigenen Pantone-Fächer und meinte: »Mati, du bist schuld! Pantone ist wie eine Droge! Ich will gar nicht mehr in CMYK drucken« (lacht)
Hat das für dich auch mit Vertrauen zu tun, eine Verpackung zu gestalten, womit sich ein Produkt nach außen präsentiert?
Vertrauen ist ein Punkt ja. Zweitens hatte man als Einzelperson gegen die großen Agenturen keine Chance. Ich finde schön, dass sich das gewandelt hat, dass die „kleinen“ Gestalter gesehen werden. Besonders wenn es um Brandings geht, was ja etwas sehr Persönliches ist. Etwas Erschaffendes. Wenn ein zu großes Team oder zu viele Designer an etwas arbeiten, dann kann man eine Marke gar nicht so greifen. Peu à peu ist es für Kunden nicht mehr so wichtig, wie groß die Agentur ist, sie fühlen sich eher von einem attraktiven Portfolio angesprochen, auch wenn es nur von einer einzelnen Designerin stammt, die ein Herz für Verpackungen hat. (Zeigt mir eine geglättete Nougatfolie aus Island) Eine, die ganz viel Verpackungs-Krams aufhebt. (lacht)