Kein Fach polarisiert so sehr wie die Mathematik, laut der Erfahrung von Masihne Rasuli. Bei der Recherche für ihre Masterthesis, mit der sie ihr Studium der Visuellen Kommunikation an der Bauhaus-Universität Weimar abschloss, begegneten ihr viele Menschen, die das Schulfach immer gehasst hatten. Gerade deshalb ist ihr Projekt »Man störe mir meine Kreise nicht« so erfrischend anders. Die mittlerweile preisgekrönte Arbeit kann als Liebesbrief an den Humor und die Kuriosität, die Klarheit und Logik, die Komplexität und Abstraktion der Mathematik gelesen werden.
Auf der Suche nach Lösungswegen
Warum zählen wir? Weshalb lernen wir das Rechnen? Welche Bedeutung hat diese Kulturtechnik für die Menschheit – und damit nicht zuletzt für die Designwelt? Diesen und weiteren Fragen wollte Masihne Rasuli auf den Grund gehen. Als Mathe-Crack würde sie sich zwar nicht bezeichnen, belegte dennoch das Fach im Leistungskurs. »Ich fand an der Wissenschaft immer faszinierend, wie sie mit Fragestellungen umgeht und welche kreativen Denkprozesse sie auf der Suche nach Lösungswegen in Gang setzt«, sagt Rasuli. »Natürlich hat mich das Thema gestalterisch gereizt, weil es bisher wenig visuelle Sprache in Bezug auf Mathematik gibt, auch wenn sie schon häufiger populärwissenschaftlich behandelt wurde. Inhaltlich finde ich spannend, wie sehr die Mathematik polarisiert, und wollte eben genau da ansetzen – Interesse wecken und sogar Abneigung aufbrechen mithilfe der Mittel visueller Kommunikation.«
Mathe im gestalterischen Kontext
Diese Übersetzung und Aufbereitung von komplizierten Inhalten empfinde sie als Aufgabe von Kommunikationsdesign. Dass sie sich mit dem Thema ihrer Masterarbeit eines aussuchte, das bisher wenig Aufmerksamkeit von gestalterischer Seite erfahren hat, ist unter diesem Aspekt fast unverständlich, sind doch viele Regeln und Vorgänge in der Designpraxis auf mathematische Prinzipien zurückzuführen. »Im gestalterischen Kontext spielt Mathematik bei ganz praktischen Anwendungen eine Rolle, etwa bei der Gestaltung eines Satzspiegels, bestimmten Regeln der Ästhetik, Programmierungen oder wenn man einfach berechnen muss, wie viel Papier für ein Buch benötigt wird«, so die Kommunikationsdesignerin, die mittlerweile als Künstlerische Mitarbeiterin an der Professur »Bild-Text-Konzeption« in Weimar tätig ist.
Vom Experimentieren und Scheitern
»Etwas weiter gefasst würde ich sagen, sind mathematische und gestalterische Lösungsprozesse ebenfalls verwandter, als man im ersten Moment denkt. In der Mathematik wird viel ausprobiert, experimentiert und gescheitert. Man muss in viele Richtungen denken können und kreativ handeln – etwa indem man ein Problem der Zahlentheorie letztendlich geometrisch und nicht rechnerisch löst. Genauso verhält es sich häufig auch in der Gestaltung – mit der Unterscheidung, dass es in der Mathematik am Ende ein klares Richtig oder Falsch gibt und in der Gestaltung Interpretationsspielräume existieren.« Ebenso sei die Fähigkeit gefragt, abstrakt zu denken, und so Inhalte zu vereinfachen oder überschaubarer zu machen. Auch eine gewisse Hartnäckigkeit verbinde gute Gestalter:innen ebenso wie Mathematiker:innen bei der Suche nach einer optimalen Lösung.
»Harte Nüsse«
»Man muss Mathematik nicht bis ins letzte Detail verstehen, um ihrer Faszination zu erliegen«, findet Masihne Rasuli. Der Ansatz ihrer Masterthesis war deshalb, die Geschichte der mathematischen Wissenschaft in einem völlig neuen Licht dazustellen. Das zentrale Narrativ bildet eine Publikation, die wichtige Meilensteine der Mathematik markiert. Ihre überraschende Erzählform macht sie zugänglich und lässt die absolut kuriosen Genies hinter den jeweiligen Errungenschaften lebendig werden, alle Texte hat sie selbst verfasst. Collagierte Illustrationen erleichtern das Lesen, auch mathematische Grafiken dienen der besseren Vermittlung der Historie. Als interaktives Zusatzelement entstand das illustrierte Kartenset »Harte Nüsse«, das 23 bekannte mathematische Paradoxa, lustige Rätsel und absurde Phänomene versammelt.
Gestalterische Details
»Gestalterisch wollte ich Wege einschlagen, die einen Kontrast zur existierenden populärwissenschaftlichen Literatur zur Mathematik setzen«, so Rasuli. Sie entschied sich für ein prägnantes leuchtendes Farbklima sowie illustrative Elemente, deren Anmutung mal humorvoll, mal surreal erscheint. Bei der Schriftwahl setzte sie auf Fonts, die die rational-geradlinigen und fantastievoll-kreativen Charakterzüge der Mathematik widerspiegeln. Mit der Euclid Flex, einer schön geometrischen Schrift von Emmanuel Rey, sowie dem geschwungenen, extraweiten Monospace-Font Nostra Stream von Lucas Destroix gelang ihr dieses erwünschte typografische Wechselspiel fabelhaft.
Besonders kommen diese gestalterischen Details durch das Siebdruckverfahren auf hochwertigem Papier aus der Gmund-Color-Serie zur Geltung, das sie für die einzelnen Bestandteile und auch das Packaging einsetzte. »Ein kindliches Erscheinungsbild wollte ich unbedingt vermeiden, denn die Erzählung richtet sich vor allem an ein erwachsenes Publikum, das vielleicht seit der Schule den Kontakt zur Mathematik verloren oder ihr gegenüber schon immer Abneigung empfunden hat«, erklärt sie.
Der Ursprung des Titels
Übrigens wird der Ausspruch »Störe meine Kreise nicht!«, welcher Titel ihrer Arbeit wurde, dem griechischen Erfinder, Mathematiker und Physiker Archimedes zugeschrieben. Als Erster benannte er die Zahl Pi mathematisch; man benötigt sie, um den Flächeninhalt eines Kreises zu berechnen. Mutmaßlich kamen die Römer auf ihn zu, die im Jahr 212 v. Chr. Syrakus, eine Küstenstadt auf dem heutigen Sizilien eroberten. Archimedes, bald ein Greis, war damit beschäftigt, geometrische Figuren in den Sand zu zeichnen, als sie ihn gefangen nehmen wollten. Der Rest ist Geschichte.
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