Die Überzeugung, dass idealistische Ziele dem eigenen Wirken viel Kraft verleihen, leitet die Gestalterin Nina Reisinger in ihrer Designpraxis seit Jahren. In ihrer Lehrtätigkeit, unter anderem an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, möchte sie Studierenden vermitteln, dass sie mit ihrem Designberuf buchstäblich die Welt mitgestalten – und sich hierfür verantwortungsvoller, ethischer Prinzipien bedienen können. Die Keynote »Ethics & Design: The Grid is Dissolving« hielt sie kürzlich aber nicht im Hörsaal, sondern auf einer Konferenz zum Thema International Political Design. So konnte sie das tun, was ihr das Liebste ist: aus der eigenen Bubble heraustreten.
Dieser Beitrag stammt aus unserer Ausgabe 06.23 »Design im Raum«
»Alles wurde gestaltet.«
Das interdisziplinäre Denken ist ein zentrales Anliegen ihrer Arbeit als Gestalterin und Dozentin – die Anfrage zu einer Konferenz über internationale Politik hat sie daher besonders gefreut. Eine der Initiatorinnen, erklärt sie, interessiere sich sehr für Politik im Design und deren infrastrukturell-gesellschaftliche Prozesse, deshalb die Einladung. »Die Frage, wie tief ich in das Thema einsteigen kann und welche Vorstellungen über den Designbegriff existieren, war für mich total interessant«, so Reisinger.
Der vollständige Titel des Vortrags »Ethics & Design: The Grid is Dissolving. How to Implement Ethics in Design by Unlearning (Design) History« weist metaphorisch sowie sprichwörtlich auf die Raster unserer Gesellschaft hin. Nina Reisinger beginnt mit einer grundlegenden Betrachtung des Designbegriffes, um alle abzuholen: »Was ist Design überhaupt? Wir denken vielleicht an Objekte wie Stühle oder Autos, vielleicht ans Bauhaus oder Vitra oder an designte Objekte wie Websites oder Poster, die Navigation von Amazon oder Tinder. Wir sind 24/7 von Design umgeben«, erklärt sie den Konferenzteilnehmer:innen. »Alles wurde gestaltet.« Design definiert sie dabei als ein Handwerk, das schon immer im Dienste der kapitalistischen Logik stand.
Wie kaum eine andere Disziplin hat sich das Design immer wieder den technologischen und kulturellen Veränderungen anpassen müssen. In unserem immer rasanter werdenden Informationszeitalter sind es die Designer:innen, die quasi alle Arten von Informationen kodifizieren. Ethische Fragen sind dabei immer mit im Spiel, Reisinger geht auch auf die Tatsache ein, dass selbst vermeintlich gutes Design – etwa eine Werbekampagne oder eine Dating-App – dazu führen kann, dass wir uns unzulänglich und einsam fühlen. Ganz zu schweigen von den völlig neuen Fragen, die durch den Einsatz von KI-Werkzeugen entstehen.
Ist Innovation immer wirklich besser?
Nina Reisinger erwähnt in diesem Zusammenhang auch einen gewissen Techno-Optimismus: »Wenn wir von Innovation sprechen, gehen wir in der Regel automatisch davon aus, dass es sich um etwas Gutes handelt. Aber ist es das wirklich? Ist es nicht vielmehr so, dass ein innovatives Produkt dem Kapitalismus noch besser dient? Fortschritt wird oft als Heilsbringer verkauft, aber dahinter steckt oft der Drive, wettbewerbsfähig zu bleiben.«
Ihrem Vergleich eines Grids mit dem kapitalistischen System können im Kontext der Konferenz, das ist Reisinger bewusst, vielleicht nicht alle Teilnehmer:innen folgen. »Einen scheinbar lukrativen Designauftrag auf seine ethische Notwendigkeit hin zu hinterfragen, ist natürlich oft radikal und entzieht sich jeder Marktlogik. Denn wenn wir uns umgucken und sehen, wie hier die Hütte brennt, dann haben wir rein theoretisch schon die Antwort: Man sollte insgesamt weniger designen.«
Ihr Verständnis von Ethik im Design hatte sich schon früh mit gesellschaftlichen Themen verwoben: So hieß eines ihrer älteren Seminare, das sie gemeinsam mit ihrer langjährigen Mitstreiterin, der Künstlerin Micha Wille, hielt, »How Patriarchy and Capitalism fucked up my life and what I will do about it«. Schon viel früher, seit ihrem Diplomstudium an der Wiener Universität für angewandte Kunst in den Nullerjahren und den ersten kommerziellen Agenturjobs, war Nina Reisinger von dem Wunsch getrieben, sich mit dem sprichwörtlichen Gestaltungsspielraum strikter Hierarchien auseinanderzusetzen. In ihrem Vortrag spricht sie davon, dass jedes Kleinkind lernt, außerhalb einer Disziplin zu denken – und es später leider wieder verlernt, das Schubladendenken ist Teil der Sozialisation. Während ihres Studiums habe sie Design als Handwerk begriffen, »ein Skill-Set, das seit über 100 Jahren auf eine bestimmte Art und Weise gelehrt wird, mit den gleichen Idolen und Vorbildern, den gleichen Dos and Don’ts«. Zwar gab es zu vielen strengen Designkoryphäen subversive Gegenbewegungen, die wie Punk oder Memphis den Mainstream erreichten, doch das Grundgerüst der Designdoktrin war immer klar umrissen. »Gerade in der Typografie gibt es viele Regeln, die auch sehr einschüchternd sein können«, sagt Reisinger.
»Ich betrachte die Welt als einen Garten«
»Präzision war in meinem Studium so wichtig, dass ich vor seriöser Typografie regelrecht Angst hatte. Ich war nicht so sehr auf Präzision aus, ich war eher impulsiv. Deshalb fühlte ich mich in der Welt des Designs irgendwie fehl am Platz.«
Heute ist sie zwar froh, dass es gewisse Regeln zur Orientierung und Lesbarkeit gibt, bricht diese aber auch gerne mal. Und sie verbindet ihre Lehrtätigkeit immer wieder mit praxisnahen ethischen Grundlagen, die den Studierenden vor Augen führen, welche Kraft in der Gestaltung liegt. Damit, so erzählt sie, sei sie oft die erste, die die Studierenden mit Ethik konfrontiert – auf dem Lehrplan stünden eher Technik, UX Design und die Einführung in die Agenturwelt. »In meinen Kursen sage ich immer: ›Ihr könnt Nein zu Jobs sagen, ihr könnt frei entscheiden, wo ihr arbeitet. Ihr könnt Dinge verändern. Seid euch darüber im Klaren, dass ihr mit eurem Beruf die Welt gestaltet. Und die Welt, die ihr gestaltet, ist die Welt, in der wir leben.‹«
Immer wieder gibt sie den Studierenden Literaturtipps, um sie sprachfähig zu machen, zum Beispiel vom niederländischen Valiz Verlag, der aufschlussreiche Bücher zum Thema Social Design und Ethik herausgibt. »Eine wichtige Quelle war für mich auch die form, die es leider nicht mehr in gedruckter Form gibt. Oder das Missy Magazine, das lange von meiner guten Bekannten Daniela Burger gestaltet wurde.« Zwar verfolgt sie kein klassisches wissenschaftliches Arbeiten, weil das nie Teil ihres Studiums war. »Eher betrachte ich die Welt als einen Garten, aus dem ich pflücke, was ich für meine Lehrtätigkeit brauche.«
Auch den Konferenzteilnehmer:innen möchte Nina Reisinger eine Art Vokabular zur Verfügung stellen, um benennen zu können, woher es kommt, welches Design wir gut finden. Die Quellen, die sie zur Verfügung stellt, sollen den stereotypischen patriarchalen Diskurs aufbrechen. Sie möchte andere Perspektiven anbieten, die vielleicht nicht alles beantworten, aber die richtigen Fragen aufwerfen.
Damit unterscheidet sich ihre Botschaft auf der International-Politics-Konferenz nicht wesentlich von ihren Designtheorie-Seminaren: »In dem Moment, in dem ich über Ethik spreche, bin ich bereits in einem politischen Feld. Dann spreche ich über Inklusion oder Dekolonisation, über patriarchale Strukturen. Natürlich ist Lehre immer politisch.«
Was bedeutet es also konkret, das Raster, den Raster aufzubrechen? Nina Reisinger sieht ein großes Potenzial darin, Unordnung zuzulassen, die manchmal sogar notwendig ist, um kreativ arbeiten zu können. »Mit anderen Worten: Fluidität, Offenheit, Humor, weniger Hierarchien, mehr Raum«, sagt sie. »Vor allem auch Verletzlichkeit.« Darum geht es auch in ihrem neuesten Seminar in Kollaboration mit Micha Wille, das im Oktober an der HTW Berlin begonnen hat: »Strategies of Vulnerability in Design«, das Semesterprojekt dreht sich um die Herausforderung, angesichts der kapitalistischen Logik verletzlich zu bleiben. Entgegen der gewissen Machtposition als Dozentin offen zu bleiben, sei nicht immer leicht, findet sie: »Man muss sensibel mit dieser Rolle umgehen, vor allem wenn die Studierenden sich ihr mit ihren persönlichen Geschichten öffnen, etwa zu Klassismus oder Migrationsgeschichten.«
Um die eigene Wirksamkeit zu reflektieren, stellt Reisinger ihren Studierenden schon mal die Aufgabe, ein eigenes Designmanifest zu verfassen – und damit zu verinnerlichen, dass es einfacher und nicht zuletzt ressourcenschonender ist, ein Designprodukt von Anfang an menschenzentriert und nach ethischen Prinzipien zu gestalten, als nachträglich Verbesserungen auf ein bestehendes Produkt zu applizieren. Ihre Botschaft an die Konferenzteilnehmer:innen: Klar ist die Vorstellung krass, dass sich ethisches Design vom Kapitalismus lösen soll. Und klar wirft das die Frage auf, wie man damit Geld verdient. »Doch im Idealismus verbirgt sich auch die Kraft, gute Ideen zu entwickeln und mutig in eine bestimmte Richtung zu gehen.«
Mehr über Nina Reisingers spannende Arbeit finden Sie hier.
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Fotos des Projekts »The Grid is Dissolving: Strategies of Vulnerability in Design«: Yu Ling Cheng, Thereza Menclová, Laura Wolf