Wertschätzung, Achtsamkeit, gewaltfreie Kommunikation – gerade in der Kreativbranche hat man diese Begriffe in der letzten Zeit häufig gehört. Mit Kritik aus den eigenen Reihen tun wir uns dennoch oft schwer, was vielleicht daran liegt, dass wir selten über gute Gestaltung diskutieren, schon gar nicht kontrovers von Angesicht zu Angesicht. Was also macht ein gutes Plakat aus? Wann ist es auszeichnungswürdig und welche Tipps kann man jungen Kreativen mit auf den Weg geben?
Ein ehemaliger und der amtierende Präsident des Vereins 100 beste Plakate und damit zwei großartige Plakatgestalter diskutierten mit Christine Moosmann über Plakatgestaltung. Stephan Bundi und Fons Hickmann waren nicht immer einer Meinung, aber so viel ist gewiss: Das Plakat ist ein Medium wie kein anderes.
Im Zuge der 100 Besten Plakate, die wir im Grafikmagazin 03.21 vorstellten, hast du, Stephan, als ehemaliger Präsident einige Punkte rund um Wettbewerbe und Plakatgestaltung kritisch angesprochen. Ich hatte das Gefühl, dass man darüber einmal sprechen sollte, am besten mit dir, Fons, dem aktuellen Präsidenten.
Stephan Bundi: Ich habe unter anderem in Deutschland studiert und was mich immer beeindruckt hat, war die Streitkultur. Man kann auf gute Art und Weise eine andere Meinung vertreten und doch zu einem Ziel kommen.
Fons Hickmann: Das halte ich für einen guten Punkt. Diskussion ist wichtig und auch unterschiedliche Meinungen in der Gesellschaft. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es den Leuten immer schwerer fällt, unterschiedliche Meinungen zu ertragen, doch das müssen wir und wir müssen auch mit unterschiedlichen Meinungen respektvoll umgehen. Denn wenn ich verstehe, wie der andere denkt, dann kann mich das selbst bereichern. Also sollten wir uns auch jetzt Mühe geben, richtig unterschiedlicher Meinung zu sein. (Lachen)
SB: Wir kennen uns persönlich nicht sehr gut, aber wir haben gewisse Parallelen, was unsere Auftragsbereiche angeht. Fons, deine Arbeiten musste ich nicht extra recherchieren und das ist für mich eines der besten Zeichen, wenn man sich auch nach Jahren noch an Arbeiten erinnert, weil sie haften geblieben sind. Mehr kann ein Plakat nicht und da sind wir schon beim Wettbewerb. Wenn ich mir die 100 Besten durchschaue, dann sind für mich die besten die, an die ich mich am nächsten Tag noch erinnere. Das sind aber nicht viele und an die wenigsten erinnere ich mich nach zehn Jahren noch. Das ist für mich ein wichtiger Aspekt und heißt, dass sich jemand wirklich mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Und nicht nur visuelle Dekoration gemacht hat, sondern visuelle Kommunikation.
Bei Wettbewerben habe ich manchmal das Gefühl, dass eine gewisse inhaltliche Schärfe fehlt, eine wirklich gute Idee, die für mich Plakatgestaltung ausmacht. Irre ich mich da?
FH: Nein, ich finde, dass genau das das Profil der 100 Besten Plakate ist und dieser Wettbewerb einen künstlerischen Ansatz hat. Das ist nicht vergleichbar mit Plakaten aus dem kommerziellen Bereich oder mit Wettbewerben wie dem Art Directors Club oder Type Directors Club oder dem Red Dot. Das Besondere an diesem Format ist, dass das künstlerische, intellektuelle und sozialpolitische Plakat präferiert wird, auch in der Auswahl.
Allerdings muss man auch dazu sagen, dass die Jury jedes Jahr eine andere ist. Übrigens ist die fünfköpfige Jury paritätisch besetzt, das heißt in einem Jahr sind es drei Männer und zwei Frauen, im nächsten Jahr ist es umgekehrt. Wir besetzen auch altersparitätisch, sprich es sind jüngere und ältere Kreative in der Jury vertreten, zudem kommt aus jedem der drei beteiligten Länder mindestens ein Mitglied, plus ein Gast aus dem Ausland. Die Jury-Zusammensetzung ist also kompliziert.
Aber die Jury ist unabhängig und folgt keinen ästhetischen oder inhaltlichen Vorgaben des Vereins. Jede Jury ist völlig anders und da finde ich es schon erstaunlich, dass über die Jahre gesehen das Qualitätsniveau doch meist sehr hoch ist, auch im Vergleich mit anderen Wettbewerben.
Müssen denn immer hundert ausgezeichnet werden?
FH: Ja, ein paar Spielregeln haben wir schon. Am Ende sind es hundert Plakate, wobei eine Serie als eins gilt, das macht dann schon mal 140 Plakate aus, so wie in der diesjährigen Ausstellung.
SB: In der Schweiz gab es den Wettbewerb »Schweizer Plakate des Jahres«, dieser wurde 1943 gegründet und zeichnete die schönsten Plakate aus. Und das Tolle an dem System war, dass die Plakate dann in allen größeren Städten schweizweit ausgestellt wurden. Ich kann mich erinnern, dass wir uns das mit der Schule angesehen haben und man musste dann einen Aufsatz darüber zu schreiben. Das war ganz wichtig für das Bewusstsein in der Schweiz für Grafik und für das Plakat.
Das ist vielleicht ein Problem bei den 100 Besten, aber auch beim ADC und anderen Wettbewerben, es sind immer Blasen, in denen wir uns befinden. Und als Schweizer findet man, der Name 100 Beste Plakate wirkt schon sehr deutsch. Es gibt 100 Beste und der 101. ist nichts mehr wert. (allgemeines Lachen)
Auch ist der 99ste genauso gut wie der Erste. Ich fände es besser, die Plakate des Jahres zu küren. In der Schweiz konnte man für diese Auszeichnung zum Beispiel nicht einreichen, man wurde einfach ausgewählt. Ich habe das in Bern noch miterlebt, da waren alle 3500 Plakate in einer riesigen Halle an einer Wäscheleine aufgehängt und man brauchte Stunden, um alle abzulaufen.
FH: Du hast recht, die Qualität kann man nicht an der Zahl festmachen. Man kann nicht sagen, es gibt jedes Jahr nur 100 gute Plakate, manche Jahrgänge sind auch stärker als andere. Aber dieser Wettbewerb hat eine Tradition und wurde vor 60 Jahren in der DDR ins Leben gerufen. Anfangs war er regional sehr begrenzt, dann zeichnete er Deutschlandweit aus und seit 20 Jahren werden Arbeiten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz prämiert. Die Klammer waren immer die »100 Besten«, dadurch wurde der Wettbewerb als Marke wahrgenommen und besitzt auch international Strahlkraft.
SB: Ja, das kann man nicht mehr ändern, aber man könnte auch andere Dinge infrage stellen. Ich habe zum Beispiel als Präsident die Online-Eingabe eingeführt, das gab es vorher nicht und vom Verein der 100 Besten Plakate kam viel Widerstand: Ein Plakat muss man fühlen und richtig sehen. Nein, wenn ein Plakat nicht im Halbdunkel und schlecht gedruckt wirkt, dann ist es nicht gut. Ein Plakat ist ja kein Kunstdruck, der nur im Museum mit Licht ausgeleuchtet richtig zur Geltung kommt. Wenn du ein Plakat in Bildschirmgröße nicht gut findest, dann ist es in Originalgröße auch nicht besser.
FH: Uwe Loesch hat mal gesagt, ein Plakat muss auch als Briefmarke funktionieren.
SB: Ja genau, das ist heute längst unbestritten. Wichtig ist aber auch, wer auswählt. Beim Swiss Poster Award zum Beispiel besteht die Jury aus Fotografen, Grafikern, Werbeleuten und Marketingmenschen. Dann hat man nicht so ein Blasengebilde. Ich weiß mehr oder weniger, was Grafiker gut finden und weiß, wie Werber denken, aber es gibt gute Arbeiten, die sind einfach gut und werden auch vom Gros der Leute als gut eingestuft.
Gibt es wirklich ganz neutrale Kriterien, die ein gutes Plakat ausmachen?
SB: Ja, das sind Innovation und Plakatgerechtigkeit … und dann sind selbstinitiierte Projekte natürlich nicht vergleichbar mit Auftragsarbeiten. Ich habe beispielsweise einen Kunden, das ist ein permanenter Kampf. Die wollen eigentlich nie, was ich mache. Ich gehe da immer wieder ans Limit und sage: Dann müsst ihr euch halt einen anderen Grafiker suchen.
FH: Wettbewerbe haben Qualitätskriterien, aber jeder hat auch seine persönlichen Kriterien. Für mich ist ein Plakat etwas, das formal und inhaltlich funktioniert und bei dem Form und Inhalt zusammengehören und zusammenpassen. Zudem muss ein Plakat inhaltlich und ästhetisch relevant sein. Ästhetisch relevant, da stellt sich natürlich die Frage, was ist das? Dazu gehört, was wir bei den 100 Besten immer wieder sehen, dass es sehr zeitgenössisch ist.
Aber gehen zeitgenössisch und zeitlos zusammen? Von guter Gestaltung sagt man ja meist, dass sie zeitlos sein soll.
FH: Das muss nicht zusammengehen. Etwas Zeitgenössisches hat immer einen Touch von Mode, wie in der Musik, der Fashion oder der Kunst. Eine Ästhetik, die nur heute geht und nicht morgen und auch nicht gestern. Das ist ein Aspekt von zeitgenössisch oder auch zeitgeistig. Und dann gibt es noch die klassischen Parameter, also bestimmte Schriften, Formen oder Farben, die als zeitlos gelten. Eine Bilddiagonale wird immer eine Bilddiagonale sein und wenn du innerhalb eines Plakats einen Spannungsbogen aufbaust, dann ist das ganz ähnlich, wie in der Kunst ein Bild komponiert wird. Es gibt Mechanismen, die funktionieren visuell einfach. Das ist dann vielleicht zeitlos, aber nicht zwingend zeitgenössisch.
SB: Ich bin da weitgehend deiner Meinung, wobei ich finde, dass ein Plakat ein klassisches Medium ist. Es ist immer interessant, wenn Leute sagen, wir müssen das Plakat neu denken. Boah, das ist, wie wenn jemand sagt, wir müssen das Schachspiel neu denken. Nein, muss man nicht!
Das Plakat ist eine Fläche, die klebt an der Wand, der Inhalt muss lesbar sein und uns ansprechen. Interessant ist, dass das Plakat das einzige Medium ist, das auf Distanz anders wirken kann als aus der Nähe. Mit diesen optischen Phänomenen habe ich selbst oft gespielt und das geht nicht bei einem Buchumschlag oder einem Inserat. Dieses Medium ist so reich an Möglichkeiten und ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Hamlet-Plakate es gibt oder dein Don-Carlos-Plakat, der Jumbo im Wald – da kriege ich weiche Knie. (allgemeines Gelächter)
Ich habe selbst schon zweimal Plakate für Don Carlos entworfen, ein großartiges Drama, Liebesgeschichten, die nicht funktionieren, die zu Tod, Enttäuschung oder Verrat führen. Ein Herz wäre also immer richtig, aber das geht natürlich nicht. Das Drama fängt aber im Bois de Boulogne an, die Situation ist ausweglos und wenn man dann deinen Jumbo im Wald sieht, denkt man: Ja. Genau so ist das! Mein Ansatz war ein Schloss, bei dem der Schlüssel im Bügel hängt, sodass man das Schloss nicht öffnen kann. Nichts geht mehr. Das sind Ideen, die finde ich beeindruckend und die möchte ich als Juror auch nicht diskutieren, die sind einfach top.
FH: Man kann noch zwei weitere gute Parameter hinzufügen. Das eine ist für mich die Nah- und Fernwirkung, die wirklich nur dieses Medium so beherrscht. Ein Plakat muss von ganz weit wirken und einen ersten Eindruck vermitteln, dann gehst du ran und hast im besten Fall noch mal eine andere Wirkung, nämlich die Information. Man kann also zwei Botschaften vermitteln, zum einen ein Signal, das kann eine Provokation sein oder eine starke Idee. Und wenn du rangehst, entschlüsselt sich möglicherweise ein Subtext. Genau das begeistert mich an Plakaten, wenn ich eine darunterliegende Botschaft erkenne. Auf den ersten Blick nehme ich das Signal wahr und auf den zweiten denke ich, oh wow, da ist der Bezug, da ist eine Analogie. Und das sind dann auch die hervorragenden Arbeiten, die uns dauerhaft beeindrucken.
Kann man das lernen? Ich würde gern noch den Bereich Lehre und Ausbildung ansprechen.
FH: Klar kann man das lernen. Einer meiner Lehrer war Uwe Loesch und für ihn waren Analogien immer essenziell. Ein Hinweis oder ein Witz, den ich auf den ersten Blick vielleicht gar nicht erkenne, sondern nur, wenn ich mich mit dem Thema beschäftige. Theaterplakate werden beispielsweise auch von Leuten beurteilt, die gar nicht wissen, was Theater ist …
SB: Ja, aber die müssen es auch nicht verstehen.
FH: Die können es auch nicht verstehen, aber das ist ok. Da ist mir der Rezipient dann auch »egal«, der sich nicht müht um Kultur und um Bildung, denn er kann es gar nicht verstehen. Ich kann mich aber auch nicht auf dieses Niveau begeben, um die Sache verständlich zu machen, denn wenn man Theater verstehen will, muss man es auch anschauen. Wenn man Musik verstehen will, muss man sie hören.
SB: Das kann aber auch problematisch sein. Wenn ich ein Macbeth-Poster mache, wissen die meisten sofort, um was es geht. Wenn ich aber ein Plakat zu Ephebiphobie mache, das ist die Angst vor Teenagern, dann können die meisten das Motiv nicht entschlüsseln.
FH: Aber dann ist das Ganze ein Rätsel für mich. Ich habe ein Fremdwort und ein Sujet und dieses Rätsel muss ich lösen wollen. Wenn ich es löse, dann passiert der Memory-Effekt und ich vergesse das Plakat und das Thema nie wieder. Diesen Mechanismus können wir im Idealfall durch unsere Arbeit auslösen.
Hat das Plakat heute noch eine so starke Bedeutung wie früher? Schließlich wird inzwischen auch über viele andere Medien kommuniziert …
FH: Ich verstehe die Frage, die habe ich wohl zum ersten Mal gehört, da war ich noch Student, jetzt bin ich schon eine ganze Weile dabei, du, Stephan, noch länger …
Du meinst, die Frage ist ein Evergreen? (Gelächter)
FH: Ja, die Frage ist ein Evergreen. Und ich kann nur sagen, warum sitzen wir denn hier? Das Plakat ist das kommunikativste Medium überhaupt! Das ist es immer schon gewesen und das bleibt es, auch wenn es sich inzwischen immer häufiger auch bewegt. Selbst wenn wir über Politik reden, reden wir über Plakate. Ich finde, die Frage beantwortet sich recht schnell.
SB: Ich sehe das genauso. Bei Theateraufträgen höre ich oft: Sollen wir nicht mehr auf der Webseite machen? Nein, das Plakat ist ein Hinweismedium. Ich muss erst mal wissen, was überhaupt läuft, denn ich gehe ja nicht einfach so auf irgendwelche Webseiten. Wenn ich aufmerksam geworden bin, dann gehe ich ins Internet, informiere mich über freie Plätze, Preise oder buche ein Ticket, dafür sind Webseiten wunderbar, aber ich muss diesen ersten Hinweis erst einmal bekommen.
Ein Plakat lebt ja auch immer von seiner Umgebung. Wie sehr denkt man das beim Entwurf mit?
FH: Ich finde das tatsächlich nicht so wichtig. Ein Plakat darf auch im Museum hängen. Es muss nicht nur an der Litfaßsäule funktionieren, es kann auch einen ästhetischen Weg verfolgen, so wie in der Kunst. Das ist nicht die Masse, aber ich finde es wichtig, dass Gestalter das Medium auch als künstlerische Ausdrucksform begreifen. Ein Plakat ist nicht nur Werbung.
SB: Um noch einmal auf deine frühere Frage zurückzukommen, kann man das lernen? Natürlich kann man vieles wie etwa Basics lernen. Es gibt Regeln, aber das Gegenteil kann auch manchmal richtig sein. Man spricht ja von Plakatkunst, nicht von Inserat-Kunst oder Flyer-Kunst, und diese Kunst muss man beherrschen. Ich hatte schon Studierende, die meinten, du, schau mal, mein Plakat, da hab’ ich mir dies überlegt und dann habe ich das so gemacht und dann so. Und nach zwanzig Minuten meinte ich, hör mal, wie soll das funktionieren? Willst du vor deinem Plakat stehen und allen Leuten minutenlang erklären, was deine geniale Absicht war? Wenn nicht sofort rüberkommt, was ich wissen will, dann funktioniert es nicht. Da muss ich nicht lange vom goldenen Schnitt reden. (lacht)
FH: Ich versuche immer mitzugeben, erzähle nicht die Pointe, bevor du nicht den Witz erzählt hast. Und eine weitere wichtige Regel: Nimm den Betrachter ernst! Man muss ihm auf Augenhöhe begegnen und darf nicht sofort alles verraten. Damit unterfordern wir die Menschen, für die wir Kommunikation betreiben. Und intellektuelle Unterforderung ist eigentlich eine Beleidigung. Bei allem, was ich sehe oder lese, in der Kunst, Musik, Kultur und Literatur, möchte ich gefordert werden. Kommunikation, die unterfordert, besitzt keine Nachhaltigkeit.
Wir bedanken uns herzlich bei Stephan Bundi und Fons Hickmann für das unterhaltsame und informative Gespräch und beim Taschen-Hersteller Freitag, der uns freundlicherweise einen Besprechungsraum im Zürcher Büro zur Verfügung stellte.
Die aktuelle Ausschreibung des Wettbewerbs »100 Beste Plakate« läuft noch bis zum 20. Januar 2022.
Wenn Sie mehr über Plakate erfahren möchten, empfehlen wir unser Grafikmagazin 05.21 mit dem Schwerpunkt »Plakatgestaltung«.